Ausgabe 1, Band 5 – November 2009
Zum ‚dialogischen Prinzip’ im politischen Denken von Hannah Arendt
Christina Thürmer-Rohr
Professorin em. für Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Berlin
I.
Hannah Arendt notierte 1964 in ihr Denktagebuch:„Es ist höchst auffallend, dass in der Kritik der praktischen Vernunft und den anderen moralischen Schriften Kants von dem sogenannten Mitmenschen kaum die Rede ist. Es geht wirklich nur um das Selbst und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft. Also ist Kants Moral inklusive dem kategorischen Imperativ die Moral der Ohnmacht“. Und in Arendts Kant-Vorlesungen (1970) heisst es: „Kant sagt einem, wie man andere zu berücksichtigen hat; er sagt einem nicht, wie man sich mit ihnen in Verbindung bringen soll, um zu handeln“. Einerseits also das denkende Selbst, anderseits die Mit- oder Zwischenmenschlichkeit - beide geben Auskunft darüber, wie Arendt die Anwesenheit und den Anspruch des und der Anderen behandelt. Wenn sie davon ausgeht, dass es Menschen nur im Plural gibt, wenn sie die Pluralität als eine Tatsache qualifiziert und das Politische als „Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“definiert, wenn also der Plural Grundbedingung der Existenz und Grundbedingung des Politischen ist, dann wird das Sich-in-Verbindung-bringen mit den mitlebenden Anderen, das Arendt bei Kant vermisst, zur zentralen politischen Frage. „Wenn wir auf dieser Erde zu Hause sein wollen, selbst um den Preis des In-diesem-Jahrhundert-zu-Hause-Seins, müssen wir versuchen, uns an dem nicht endenden Dialog mit ihrem Dasein zu beteiligen.“
Arendt hat den von Martin Buber stammenden Begriff „dialogisches Prinzip“ bekanntlich nicht verwendet. Bei ihr heißt es schlicht Sprechen, Gespräch, Zwiegespräch, Dialog mit sich selbst. Über Buber schrieb sie 1953 an Blumenfeld: „Wir sind ganz einer Meinung; nur mag ich ihn nicht“; einige Jahre später allerdings hieß es: „ ... er (hat) mir dann schliesslich doch gefallen ... weil er eine wirkliche Neugier und Lernfähigkeit für die Welt hat“. Und: „Ich hoffe, ich sehe Buber wieder“.Bubers Dialogverständnis hat allerdings mit dem Arendts wenig gemein, und für sein Dialog-Tremolo hatte sie wenig Sinn. Buber sah im dialogischen Verhältnis zwischen den Menschen die Möglichkeit der Menschwerdung – „l’existence du Toi de Dieu au Moi de l’homme“- die Existenz des Du Gottes im Ich des Menschen. Das abendländische philosophische Denken, schrieb Buber, sei von der Angst vor dem Verfehlen der Beziehung zu Gott und der Beziehung zu sich selbst beherrscht; das Verfehlen der Beziehung zu den anderen Menschen aber sei ein nichtexistierendes oder nachgeordnetes Problem geblieben. Nur wenn wir "die menschliche Person ... in ihren Beziehungsmöglichkeiten zu allem, was nicht sie ist, zu fassen versuchen, fassen wir den Menschen" - als einen, der erst durch das Du zum Ich wird. Bei Buber liegt das Fundament menschlicher Existenz in der Akzeptanz der Andersheit des Anderen, in der "Wucht" des vom Ich unterschiedenen Anderen, und erst dieser Durchbruch "macht den Menschen zum Menschen ... , (erst wenn) ein Wesen ein anderes ... als dieses bestimmte Wesen meint, um mit ihm in einer ... über die Eigenbereiche beider hinausgreifenden Sphäre zu kommunizieren".
Arendt geht es nicht um „Menschwerdung“ durch den Dialog, auch nicht um eine Ethik, die vom Gut-oder-böse-Sein handelt, „sondern um die Veränderung der von Menschen konstituierten Welt. ... Die Menschen werden nicht besser oder schlechter“. Arendts Interesse an der Mitwelt ist ein Interesse um der Welt willen, die erst im Sprechen über sie entsteht, und dieses Sprechen enthebt uns nicht des Urteils über das Gesprochene und dessen Gegenstand. Was aber ist dieses „Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“, von dem Politik handelt, und als was tauchen die Mitmenschen auf? Als vorgestellte, symbolische, repräsentative, exemplarische Andere, als konkretes Gegenüber, als öffentliche Sprecher, Einflussnehmer, Werber, Überreder, Überzeuger, Mitteiler, Empfänger des Mitgeteilten, als Ohren, Zuschauer, Beobachter, Richter, Schiedsrichter, als Meinungsspender, Meinungsveränderer, Horizonterweiterer, immer im Dienste des eigenen Urteils? Arendt hat darauf bestanden, dass politisches Denken das Einzige ist, was sich im ‚common sense’ bewegen muss, diesem „spezifisch menschlichen Sinn“, von dem das Sprechen abhängt. Das Prädikat des Politischen ist, dass es immer im Miteinander der gemeinsamen Welt bleiben muss und so „mit dem Durchschnittlichen zu tun“ hat. Dabei sei die Schwierigkeit für Kant, schreibt Arendt, „dass dies Vermögen nicht ‚egoistisch’, sondern ‚pluralistisch’ ist und doch ‚Anmaßung’ auf Apriori-Geltung stellt. In diesem Fall ist der Plural in mir ... Der Gemeinsinn enthält die Bedingung der Möglichkeit des Miteinander“. Dieser Gemeinsinn aber wurde mit dem Traditionsbruch in einer Weise beschädigt, dass er auch das Vertrauen beschädigte, das man in die konkreten Menschen als Träger des Gemeinsinns setzte. Zugleich besteht Arendt auf der Unentbehrlichkeit dieses Vertrauens – „Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht“. Solche Widersprüche schlagen sich in Arendts Dialogverständnis nieder, und man kann es verwirrend finden.
II.
In Arendts Werk und seinen verschiedenen Perioden finden sich drei unterscheidbare Aspekte, die auf ein Leben im Modus des Miteinandersprechens verweisen. Erstens folgt aus dem Nichtidentischsein mit anderen, dass wir voneinander wissen und uns verständigen müssen - verständigen „in einem absoluten Chaos ... der Differenzen“, die mit der Pluralität der Meinungen auch die Unzulänglichkeit der Logik zutage bringen. Im Miteinandersprechen verlassen wir die Anonymität, unterscheiden uns aktiv voneinander, exponieren uns, geben Aufschluß über uns, bringen uns als Personen zum Vorschein. Wir nehmen damit das Risiko auf uns, auf unsere ursprüngliche Fremdheit zu verzichten, auch künftig mit den Anderen zu existieren und die Folgen des eigenen Handelns zu verantworten.
Zweitens baut sich über das Sprechen erst die Welterfahrung auf, eine Welt, die "nur in dem Maße verständlich (wird), als Viele miteinander über sie reden und ... ihre Perspektiven mit- und gegeneinander austauschen ... In-einer-wirklichen-Welt-leben und Mit-Anderen-über-sie-reden sind im Grund ein und dasselbe". Jede Sache hat so viele Seiten, wie Menschen an ihr beteiligt sind, und Wirklichkeit kann nur erfaßt werden im dauernden Gespräch, das die vielfältigen Sichten zum Vorschein bringt. In der Sorge um eine gefährdete Welt erweisen Menschen sich als weltbegabt, indem sie zeigen, daß die Welt sie etwas angeht. Und indem man über die Dinge der Welt spricht, werden diese nicht "einfach", sondern vielfach, und am Ende steht nicht das richtige Ergebnis, sondern die Erkenntnis, das man, um vorwärtszukommen, immer wieder von vorn anfangen muß.
Drittens ist auch der Umgang mit sich selbst ein Sprechen-mit, eine Verkehrsform, die Denken heißt, ein Vermögen, das beweist, dass auch das Ich nicht als Singular existiert. Denken ist ein stummes Zwiegespräch, das „von vornherein als Dialogisch-mit-sich-selbst-sein auf Andere bezogen“ ist, das die Vorstellung des nicht mit-mir-gleichen aktiviert und das auf sich selbst zurückwirkt . „Nur weil ich mit Anderen sprechen kann, kann ich auch mit mir sprechen, d.h. denken“. Wer denkt, ist immer noch In-der-Welt, in Gesellschaft mit sich selbst und Anderen. Das innere Gegenüber ist das einzige, mit dem man zusammenleben muss solange man lebt und dem man nicht entkommen kann, es sei denn man hört auf zu denken.
III.
Das Wort „Dialog“ hat Arendt vor allem für dieses innere Zwiegespräch reserviert. Das Mit-sich-selbst-Sprechen ist „die politische Seite alles Denkens, weil sich selbst im Denken Pluralität bekundet“. Die „notwendig dialogischen Form alles Denkens“ zeigt sich in der Zwei, die „unserem Selbst entspricht“. Ohne sie „keine Wahrheit“, „keine Tiefe“, auch kein Zweifel, der „die beiden Möglichkeiten dauernd in der Unterschiedenheit und Unentschiedenheit festhält; zwischen ihnen geht der Dialog hin und her“. Das „Sich-in-Zwei-Spalten alles echten Denkens ... hält die andere Seite, die Seite des Andern offen; ... ist in der Einsamkeit und nur in ihr die absolut notwendige Repräsentation der Anderen“. In diesem Dialog muss ich immer auch ein Anderer sein und kann das Selbst durch Andere vertreten werden. Das Denken, in dem „zwei Subjekte in einer Person“ agieren, wird bei Arendt zum einzigen reinen dialogischen Ort. In ihm„ realisiere ich das Essential ... des Anderssein-als in seiner allgemeinsten Form. ... Dass ich diese Andersheit realisieren kann, indem ich mit mir selbst bin, ist die Bedingung der Möglichkeit, dass ich als ein Anderer mit Anderen sein kann“, „die Bedingung der Möglichkeit der Gemeinschaft, und niemals umgekehrt“.
In Arendts Kant-Vorlesungen findet man die Mitmenschen nur auf vermitteltem Weg. Man trifft auf mehr oder weniger autonome Vermögen, Sinne, Fähigkeiten, Bedürfnisse, Organe, ein „Organ des Denkens“, ein „Organ des Erkennens“, den „gemeinschaftlichen Sinn“, also auf Mitgifte und Besitztümer des Subjekts, das mit seinen Ausstattungen Beschreibungseinheit bleibt. Diese Ausstattungen sind es, die das Subjekt befähigen, die Anderen, sogar alle Anderen zu repräsentieren, also etwas in sich zu beherbergen, was es selbst nicht hat oder ist – eine Art innerer Bevölkerung. „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mitrepräsentiere. ... (d.h.) einen Standpunkt in der Welt (einnehme), der nicht der meinige ist .... Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen ... und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht ... und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meiner Meinung sein“,. Dieses Vermögen lässt uns in der bewohnten Welt aufgehoben sein, es ist, sagt Arendt, dazu angetan, Menschen zu gemeinsamen Bewohnern der Welt zu machen und „durch den gemeinsamen Besitz einer Welt“ aneinander zu binden.
Was Kant betrifft, findet Arendt zwei Dinge „merkwürdig“ oder „fragwürdig“: Kant sei sich in seiner Ableitung der Urteilskraft vom Geschmacksvermögen der politischen Bedeutung seiner Entdeckung nicht bewusst geworden. Und seine Definition des Denkens als „Bedürfnis der Vernunft“ schreibe dem Denken Diktatcharakter zu, so als sei Denken „das Vermögen, uns zu befehlen, das zu tun, was wir aus der Vernunft wissen“. Arendts Kritik fiel anfangs harsch aus. 1951 notierte sie: „Mit welcher Konsequenz das eigentümliche Zwischen der Pluralität übersehen wird! Das absolut isolierte und selbstherrliche Subjekt begegnet einem zweiten in der Welt, gedenkt also sofort, sich dieses zweiten als Mittel zu bedienen ... In der Begegnung ... zweier Selbstzwecke, öffnet sich die Welt wie ein Abgrund ... Die Achtung und der Respekt der ‚Menschenwürde’ ist wie ein ohnmächtiger Gruss über den Abgrund hinweg ... aus der absoluten Distanz“. Kants Argument, mit dem er unter der Frage „was soll ich tun?“ den Menschen zu einem den Gesetzen der Vernunft untergeordneten Wesen und zum „Zweck an sich selbst“ macht, habe nicht die gleiche Kraft wie Sokrates, weil es sich auf reine Vernunftbegriffe und nicht auf das Denken als Tätigkeit beziehe und weil Kant Denken nicht als Zwiegespräch verstehe.
IV.
Arendt verteidigt das Recht auf eine „Moral der Ohnmacht“, derer sie Kant verdächtigte, nur für Grenzsituationen, in denen man für die Welt keine Verantwortung mehr übernehmen kann. Der gerissene Faden der Tradition rechtfertige aber gerade die Frage, was in den Ausstattungen der Menschen Politik möglich und notwendig macht, was das „Zusammen“ sichert, wie man sich - was Kant einem nicht sagt - mit den Verschiedenen in Verbindung setzen kann, warum wir also im Plural und nicht im Singular existieren. Die Antwort ist: damit wir uns mitteilen und miteinander reden. Im Sprechen und Handeln realisiert sich Leben als inter-esse, sind die realen Anderen da, hat man mit ihnen zu tun. Hier kommt das Sprechen mit, zu und über ins Spiel, die Rede und das Rede-stehen, das Mitteilen, das Rechenschaftablegen, die Einigung. Das sind ganz andere Sprechakte als es der Denkdialog ist. Dieser ist deswegen als Modell des zwischenmenschlichen Sprechens nicht geeignet. Er kann es nicht sein, weil man mit dem inneren Dialogpartner nicht in Widerspruch geraten sollte, weil man, um mit sich selber leben zu können, mit ihm zwar nicht in Einheit, aber möglichst in Frieden leben sollte. Man steht mit ihm „auf sehr engem Fusse“, lebt mit ihm „unter einem Dach“, er macht sich bemerkbar „immer wenn ich nach Hause gehe“. Würde man das Prinzip der Widerspruchsfreiheit – das Prinzip des Denkens, „aber ausschließlich des Denkens“ - aufs Sprechen mit realen Mitmenschen übertragen, wären diese gezwungen, ihre Widersprüche untereinander aufzugeben, so wie ich im Gespräch mit mir selbst zwar Zwei, aber nicht uneins, also in Einklang mit mir sein sollte. Erst das öffentliche Erscheinen unter Menschen „ist die Bedingung der Möglichkeit des Einer-seins“, sonst könnte man mich nicht erkennen. Und „dass ich wirklich Einer bin, dazu brauche ich alle Anderen“. Erst mit den und durch die Anderen können wir aus dem doppelten Ich des Denkdialogs wieder als ein Ich erscheinen – als veränderliches und zeitliches Ich .
Der innere Gefährte ist ein anderes Gegenüber als es die konkreten Anderen sind. Mit ihnen lebt man nicht „unter einem Dach“, das Axiom der Widerspruchfreiheit gilt nicht, man hat nicht mehr in der Hand, was passiert. Im lebendigen Hin- und Her- und Widerreden, im sich Mit- und Gegeneinander zur Geltung bringen explodiert die Pluralität der Meinungen, redet jeder vom eigenen Standpunkt aus, treffen oder widersprechen sich also verschiedene Standpunkte und kann das gemeinsame Ziel nicht in der Regie eines Einzelnen definiert werden. Aber man kann sich auf eine gemeinsame Sache einigen, die durch die verschiedenen Sichten zur neuen Sache wird, somit erscheint ein Drittes jenseits von Ich und Du, das den Handelnden gemeinsam ist, wie in der Konzertmetapher, wo das Gemeinsame das Werk ist, das die verschiedenen Akteure einem Publikum darbieten, das die Chance des Überblicks bekommt. Diese Sicht aufs Handeln führt Arendt dazu, zu sagen: Kants Frage nach dem „Was soll ich tun?“ habe mit Handeln nichts zu tun, er berücksichtige es an keiner Stelle. Macht, das „Urphänomen der Pluralität“, lässt sich aus der Perspektive der Vermögen nicht fassen, weil sie erst „im Zwischen der Pluralität“ entspringt“. Das Beginnen, Zusammenhandeln und Zu-Ende-führen ist angewiesen auf Hilfe der Anderen, ein starkes Wort, das auf die Ohnmacht des Einzelnen und die Unentbehrlichkeit der Präsens Anderer verweist und zugleich auf den Grund, dass Politik im Bereich des Zwischen entsteht.
Anders steht es mit dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Hier bleibt Kant für Arendt der eigentliche Repräsentant einer politischen Philosophie, die vom Sprechen im öffentlichen Leben der Politik die gleiche Rechenschaft verlangt wie vom Dialog mit sich selbst. Es ist die Vernunft, die das Zwischen als Bezogen-sein konstituiert und mit der Kant das Denken als ursprünglich politisch legitimiert. Und erst Kant sagt, dass mit dem Entzug der Freiheit öffentlicher Mitteilung den Menschen auch die Freiheit zu denken genommen wird, denn die einzige Garantie für die ‚Richtigkeit’ unseres Denkens liegt darin, es öffentlich zu machen und gleichsam “mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen’, denken“. Die fehlbare Vernunft „kann nur funktionieren, wenn die Freiheit besteht, ihre Resultate vor dem ganzen Publikum’ bekanntzugeben“ – bei Kant ist das die Lesewelt, und auch die unparteilichen Zuschauer – „bei Kant: als wäre ich der Richter“. Die aus der reinen Tätigkeit des Denkens herübergeretteten Gedanken müssen „‚Rede-stehen’“, werden kontrollierbar, weil die Rede etwas über etwas aussagt. „So zwingt die Rede den Gedanken wieder aus der Einsamkeit des Denkens in das Miteinander“.
Als Angewiesenheit aufeinander findet dieses einen exemplarischen Ausdruck in Arendts Gedanken der Versöhnung. Um zu verhindern, dass ein begangenes Unrecht nie wieder ungeschehen gemacht werden kann, also Kontinuität bekommt und ein Unrechttun zum Schuldigsein wird, sind wir darauf angewiesen ,dass „der Andere ... bereit ist zu korrigieren“ und “ich bereit bin, ... nicht weiter zu insistieren ... Das ist der Sinn der Versöhnung“ - ein gegenseitiger Akt, der das Sich-in-Verbindung-bringen mit verschiedenen Bereitschaften verlangt , ein Akt, für den Arendt wieder das emphatische Wort „Hilfe“ verwendet und so auf eine Bedürftigkeit verweist, ohne die ein Zusammen nicht zu sichern wäre.
Die Frage, ob es sinnvoll ist, den verschiedenen Arten des Miteinandersprechens den Namen Dialog als „Prinzip“ zu geben, könnte man bejahen, sofern man Arendts Gewaltbegriff heranzieht. Denn Gewalt ist stumm, alle ihre Mittel machen Sprache überflüssig - eine Stummheit, die mit dem Anderen auch das Selbst verloren hat. Verneinen muss man die Frage, sofern man, was häufig geschieht, die Gegenseitigkeit zum wesentlichen Dialogkriterium machen wollte. Arendts Dialogbegriff tut das nicht, und er liefert kein Material zur sozialen Kommunikation und kommunikativen Kompetenz. Arendt hält an der Reservierung des Wortes Dialog fürs Denken fest. Inneres Zwiegespräch und adressiertes Sprechen sind für sie wie Denken und Handeln zwei verschiedene existentielle Positionen, die dem Unterschied zwischen Wahrheit und Meinung entsprechen. Der Denk- und Verstehensdialog hat ein metaphorisches Gegenüber, das sich nie feindselig, stumm oder indifferent verhält oder verhalten sollte, einem nie auf die „psychischen Nerven“ geht und immer eingebunden bleibt in eine Idealvorstellung von Freundschaft, mit der das Verhältnis zwischen mir und mir seine Unvergleichlichkeit behält. Nur in dieser von keinerlei Hindernissen beeinträchtigt en, nicht logik-, ergebnis- und fortschrittsorientierten Tätigkeit kann der innere Gefährte dauernder Begleiter sein, kritischer Fragesteller, Zeuge, Fluchtverhinderer, Hindernis beim ständigen Weiter-so: Stimme des Gewissens, ohne die das Andere gelöscht und mit seiner Löschung die Ausbreitung des Bösen grenzenlos würde. Das Spezifische des Denkdialogs ist seine radikale Offenheit, und diese ist Bedingung für die Autonomie des Urteilens. Es war Sokrates, der den Denkprozess, das tonlose Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst, im Diskurs vorführte und öffentlich machte. Er lehrte nichts, wusste keine Antwort auf die Fragen, die er stellte, untersuchte um des Untersuchens willen, ohne darüber hinausgehende Motive und Zwecke zu verfolgen. Aber auch dieses Sprechen gerät ins Denken derer, die es aufnehmen und wird so zum Bestandteil ihres inneren Dialogs.
Das tonlose wie das öffentlich vorgestellte Durchsprechen einer Sache mit sich selbst und das Reden über etwas zu Andern sind verschiedene Modi einer Pluralität, die Arendt „kreatürlich“ nennt, sich im Menschen und zwischen Menschen betätigt und den Ort des Politischen außerhalb des Menschen bestimmt. Dabei werden die Anderen nicht nur berücksichtigt, sondern man setzt sich in unterschiedlicher Weise mit ihnen in Verbindung. Während das Selbst schon in Verbindung mit seinem Gegenüber ist, von ihm als einem Vertrauten immer schon umgeben und ohne dieses nicht existent, muss im Feld des Mitmenschlichen die Verbindung aktiv aufgenommen, angefangen, gewollt und gesucht werden, enthüllen sich die Anderen, indem sie selber sprechen und manifestiert sich das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen. So werden die Einigungen umwegig und „umständlich“, weil die Person mitspricht, die Worte den Ohren und Augen der Mitwelt ausgesetzt sind und das Subjekt des Sprechens nicht mehr allein über Ziele und Ergebnisse verfügen kann. Wie jedes Anfangen bleibt das Gesprochene und was es auslöst unplanbar und überraschend. Arendts wunderbare Würdigungen des mitmenschlichen Gesprächs würdigen dieses nicht wegen seiner Übereinstimmung mit dem inneren Dialog, vielmehr wegen seines unerschöpflichen Reichtums und wegen „der Freude an dem anderen und dem, was er sagt“.
Dieses Gespräch würde „unweigerlich zum Stillstand kommen, wenn es eine Wahrheit gäbe, die allen Streit ein für allemal schlichtet“.
Anmerkungen