Ausgabe 1 , Band 5– November 2009
„Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“
Interview mit Heiner Bielefeldt über die Entwicklung der Menschenrechte seit 1948 in kritischer Auseinandersetzung mit Hannah Arendt
Heiner Bielefeldt leitete von 2003 bis 2009 das Deutsche Instituts für Menschenrechte in Berlin und lehrt heute Menschenrechte und Menschenrechtspolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Das Interview führten Wolfgang Heuer und Stefanie Rosenmüller im Juli 2009.
Frage: Hannah Arendt kritisiert die metaphysische Begründung von Menschenrechten in der Neuzeit, wodurch dem rein rechtlichen Rahmen eine illusionäre, weil politisch hilflose und irreführende Stärke verliehen werden sollte. Worauf gründet sich die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ 1948?
Antwort: Interessanterweise gab es darüber eine große Diskussion, und zwar spielt dabei eine wichtige Rolle der katholische Philosoph Jacques Maritain. Unmittelbar im Vorfeld der Erklärung hat er Projekte durchgeführt, in denen es darum ging herauszufinden, wie man Begründungen der Menschenrechte auch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten versteht. Das Ergebnis war: babylonische Sprachverwirrung. Er hat im Anschluss daran aber auch gefragt, wie steht es denn um die Chancen, unabhängig von den Begründungsdiskursen trotzdem pragmatische Anlegungen zu finden, etwa Ächtung der Folter, um ein Beispiel zu nennen? Und da stellte man fest, dass die Konsenschancen groß waren. Die Frage der Begründung hat dann auch in den Beratungen der UNO eine Rolle gespielt. Da gab es z.B. mehrere Vorstöße, zentrale Begriffe der Menschenrechte biblisch zu begründen mit der Würde des Menschen als Gottes Ebenbild. Das ist alles abgeschmettert worden, und insofern kann man sagen, dass der Trick bei den Menschenrechten, das kann man schon bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ 1948 zeigen, der ist, die Begründungsebenen zunächst einmal einzuklammern, was nicht heißt, sie zu streichen, um einen Konsens zu finden, der nicht auf der Ebene der Begründung liegt, sondern auf der Ebene praktischen Handelns. Dennoch sind die Begründungsfragen nicht uninteressant, sie sind relevant, wenn sozusagen auch Motivationsquellen für menschenrechtliches Engagement erschlossen werden sollen. Also sind auch religiöse, kulturelle, philosophische Begründungen nach wie vor interessant, aber sie sind nicht die Ebene, auf der man einen Konsens organisieren kann. Und der Verweis darauf, dass es eine Ebene von Begründung gibt, die aber als solche nicht konsensual festgelegt wird, ist der Begriff der Menschenwürde. Ich interpretiere den in diesem Sinne als einen Platzhalter. Er wird ja nicht inhaltlich gefüllt, er steht ganz am Anfang. Der erste Satz in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen enthält die Menschenwürde, und zwar als Gegenstand von Anerkennung, nicht von Versprechen. Ein Arendtscher Begriff wäre ja sehr der des Versprechens. Es gibt noch im Vorfeld des Versprechens ein Element der Anerkennung der jedem Mitglied der menschlichen Familie inhärenten Würde. Das steht für die Möglichkeit von Begründung, die aber in der Erklärung selber oder in den folgenden Menschenrechtskonventionen als solche inhaltlich nicht geleistet wird.
F.: Wenn man sich aber nur am Konsens orientiert, kann man aber auf politisch-moralische Abwege geraten.
A.: Das ist richtig. Der Konsens der Menschenrechte darf nie kleinster gemeinsamer Nenner zwischen dem sein, was gerade mal in unterschiedlichen politischen Systemen oder unterschiedlichen kulturellen Traditionen als konsensfähig erachtet wird. Es hat einmal einen solchen Versuch gegeben. Eine amerikanische Rechtstheoretikerin hat mal in den frühen 90er Jahren den Versuch unternommen, tatsächlich zusammenzutragen, was denn faktisch kulturenübergreifend Konsens ist. Das Ergebnis war hoffnungslos: Abgesehen von der Verurteilung des Genozids gibt es fast nichts. Bei der Todesstrafe, selbst bei der Folter kommt man in Schwierigkeiten. Also wenn man Menschenrechte so versteht, dass sie der Konsens dessen seien, was die Standards in verschiedenen kulturellen, religiösen, weltanschaulichen oder philosophischen Bezugssystemen sind, dann wären sie sozusagen dramatisch unterboten gegenüber dem, was normativ festgelegt worden ist. Also Menschenrechte sind zwar auf Konsensfähigkeit angelegt, sie sollen den Menschen in einer Weise adressieren, dass eigentlich alle „zustimmen können sollten“. Aber wie diese vertrackte Formulierung zeigt, geht es nicht um Beschreibung eines faktischen Konsenses, sondern um die Beschreibung einer Konsenszumutung. Sei sind zwar auf eine Konsensualität angelegt, aber sie beschreiben keinen faktischen Konsens.
F.: Was ist die Menschenwürde? Ist sie etwas Metaphysisches? Sie taucht bei Arendt nur am Rande auf als „wesentliche menschliche Qualität“ auf, aus der sich aber noch nicht zwangsläufig Rechte herleiten oder gar eine rechtlich garantierte Freiheit. (EU 463f.)
A.: Ich persönlich verstehe Würde als Prämisse normativen Handelns überhaupt, als Anspruch, den Menschen als Subjekt von Verantwortung zu achten. Das ist eher Kant als Arendt. Sie betrifft jeden Bereich, ob Recht oder Moral, sie ist der Ausgangspunkt menschlicher Verantwortung, wobei ich Würde nicht anthropologisch verstehe, als Merkmal, das den Menschen anhaftet, was in der juristischen Sprache gern als „Mitgifttheorie“ bezeichnet wird. Für mich ist sie vielmehr ein Element apriorischer Zuschreibung, der Zuerkennung oder besser der Anerkennung, weil es vorgängig ist beispielsweise gegenüber einem Akt des Versprechens. Denn man kann nur ein Versprechen eingehen, wenn man sich schon als Subjekte möglichen Versprechens und möglicher Verbindlichkeiten respektiert. Insofern steht die Menschenwürde für mich in der Tradition von Kant. In den Menschenrechtsnormen ist das aber viel abstrakter gehalten, weil man keinen Konsens finden würde, wenn man das konkreter definieren würde. Auf diese Weise kann man Menschenrechte über die Ebene ihrer positiven Verankerung hinaus auch mit Gehalt und auch mit Motivationskraft ausstatten.
F.: Sie verbinden die Begriffe Achtung und Verantwortung. Letzterer spielt bei Arendt eine positive Rolle, sie achtet auf die Folgen, die Kant nicht in den Blick nimmt. Arendt erklärt, dass unser Handeln aufgrund der globalisierten menschlichen Beziehungen in der Welt des 19. und 20. Jahrhunderts weitreichende Folgen hat, für die wir verantwortlich sind. Ergibt sich daraus eine Begründung für rechtliches Handeln eher allgemeiner oder empirischer Art?
A.: Ich würde das als ein transempirisches Moment bezeichnen. Es geht nicht darum, die Verantwortungsfähigkeit jedes einzelnen Menschen zu thematisieren, und es geht auch nicht darum, Verantwortungssubjektivität im individuellen Fall entlang empirischer Merkmale nachzuweisen. Darum geht es natürlich beim Strafrecht, wenn die Handlungsbedingungen und die Verantwortungsfähigkeit geprüft werden. Mir geht es bei der Würde des Menschen als Verantwortungssubjektivität vielmehr um einen axiomatischen Status, um etwas Apriorisches, um die Bedingung, wie es überhaupt möglich ist, dass wir einander Versprechen geben können und Verantwortungen festlegen. Dabei bedarf es natürlich auch der empirischen Übersetzung: das betrifft dann konkret die Verantwortung hinsichtlich politischer Aufgaben und ihrer Teilung in kommunale, föderale oder internationale Bereiche. Dazu gehört auch retrospektiv die Frage nach der Verantwortung für geschehene Taten und danach, wie viel Verantwortung, wie viel Kontingenz bei einem Ereignis im Spiel war. Übrigens, wenn man den ganzen Kant liest, so findet man auch in dieser Richtung vieles; beim späten Kant mehr als bei der „Grundlegung zur Metaphysik“, bei der er dieses transempirische Moment in einer Reinheit herausarbeitet, so dass es zunächst etwas weltfremd wirkt. Aber wenn man dann die Spätschriften Kants liest, dann merkt man, dass auch pragmatische Dimensionen zum Tragen kommen. Bei Kant hat das Recht immer damit zu tun, dass Menschen einander faktisch in die Quere kommen können. Deshalb schreibt er z.B. in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, dass das Weltbürgerrecht etwas mit der faktischen Globalisierung zu tun hat; die Welt ist ein Globus, womit er keine geographische Dimension, sondern eine politische meint. Bei den damaligen Handelsbeziehungen, die oft kolonialistisch waren, kommen, so Kant, Menschen einander in die Quere, wobei sich häufig der Stärkere durchsetzt, weshalb es einer Gegenstruktur bedarf, die auch das empirische Moment des Zwangs hat. Das Faktische muss mit dem Allgemeinen in Verbindung gebracht werden. Faktizität und Geltung, diese Wortverbindung von Habermas passt auch zu Kant. Das muss man nicht nur gegen die Kant-Lesart von Arendt sagen, die Kant sehr ins Transzendentale verschoben hat, sondern auch gegen manche Schriften von Kant selber, bei denen er ganz um die Klärung des Begriffs bemüht war auf Kosten pragmatischer Plausibilität, was sich aber später änderte, ob in der Tugendlehre oder der „Metaphysik der Sitten“.
F.: Sie haben gerade Bezuge genommen auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden und seinem Hospitalitätsrecht. Seyla Benhabib hat ja darauf verwiesen, dass Kant dieses Recht vor dem Hintergrund des Kolonialismus entwickelt. Kann man dann nicht Arendts Forderung nach einem Recht, Rechte zu haben als Radikalisierung des Kantischen Hospitalitätsrecht begreifen?
A.:Die Stoßrichtung ist jedenfalls bei Kant und bei Arendt ganz anders. Bereits Kant beschäftigt sich mit der Globalisierung – und zwar näherhin mit der ökonomischen Globalisierung in Gestalt des europäischen Kolonialismus. Um dieses Unrecht zurückzuweisen, postuliert er ein Weltbürgerrecht in gleichsam defensiver Absicht: Es wird eingeschränkt auf ein allgemeines Besuchs-, Kontakt- und Handelsrecht, womit die Anmaßungen der europäischen Kolonisatoren vom Recht ausgeschlossen sind. Bei Hannah Arendt steht die Globalisierung in einem anderen Erfahrungskontext. Sie hat erstmals systematisch darüber nachgedacht, was daraus folgt, dass die territorialstaatliche Organisation des Politischen global durchgesetzt worden ist. Die Welt ist dadurch politisch restlos aufgeteilt worden, so dass Menschen, die zwischen die Staatsgrenzen geraten, buchstäblich ins Nichts fallen. Das Arendtsche Weltbürgerrecht auf Rechte kann daher gerade nicht auf ein Besuchsrecht eingeschränkt sein. Ihr geht es um Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen, die auf Dauer angelegt ist.
F.: Was aber hilft die Berufung auf die Menschenwürde, wenn man keine Rechte hat? Deshalb macht doch Arendt einen starken Unterschied zwischen den „bloßen Menschen“, die sich voneinander unterscheiden, und den Menschen, die durch die Rechte erst politische Gleichheit erlangen. Kann man eigentlich von Menschenrechten mit Betonung auf „Menschen“ sprechen, wenn es doch um die Betonung „Rechte“ im Sinne politischer Rechte geht, weshalb Arendt davon spricht, dass es eigentlich nur ein einziges Menschrecht gebe, das Recht, zu einer politischen Gemeinschaft dazuzugehören? Und ist ihr Rechtsbegriff nicht intersubjektiv, weil er sich nicht in erster Linie am einzelnen Individuum, sondern an den intersubjektiv Handelnden, am politischen Raum und auch am Rechtsraum orientiert?
A.: Arendts Position ist zunächst einmal eine Kritik an dem damaligen Menschenrechtsbegriff, den sie als zu abstrakt und zu wenig von der konkreten Lebenswelt her gedacht sieht, von dem sie befürchtet, er könnte politische Räume durch ethische Maßstäbe von außen deformieren oder zerstören und sei zu wenig von der Kategorie der Räumlichkeit her gedacht. Das aber ist gerade der Fall. Ich würde mit Arendts Menschenrechtsansatz, aber gegen ihre Kritik sagen, dass die Menschenrechte auf Intersubjektivität angelegt sind. Sie gehen aus Intersubjektivität hervor und sollen sie prägen in eine bestimmte Struktur hinein, nämlich von Freiheit und Gleichheit. Jedes Menschenrecht ist überhaupt nur intersubjektiv denkbar. Nehmen wir mal einen fairen Prozess an auf der Grundlage des Habeas Corpus-Rechts. Da gibt es das Recht auf frei gewählten Kontakt, den Anwalt eigener Wahl, ganz praktisch. Es geht immer um die Kommunikation. Meinungsfreiheit - das ist kein individuelles Recht in dem Sinne, dass der Mensch einer Monade gleich individueller Rechtsträger wäre, sondern das Recht einer Gemeinschaft Sprechender und Hörender. Es geht um Interaktion und darum, dass die Interaktion allerdings für jeden ermöglicht wird, aber auch, dass man sich zurückhalten kann, in der Privatsphäre, die auch für Arendt wichtig ist, als Gegenhalt der Öffentlichkeit. Auch die Privatsphäre als Raum frei gewählter Kommunikation, auch das Schneckenhaus: Es gehört zur Kommunikation dazu, dass ich auch ab und zu in Ruhe gelassen werde; das wird geschützt. Datenschutz - wenn das nicht interaktiv ist, was denn sonst? Das sind die neueren Rechte. Diskriminierungsschutz, Religionsfreiheit, es geht nie um den individuellen Glauben allein, sondern relevant wird es immer dann, wenn sich der Glaube als kommunikativer Akt manifestiert, als Prozession, als Streit um die Mohammed-Karikaturen, als symbolische Inanspruchnahme des Raums auch durch Moscheen. Also jedes einzelne Menschenrecht, auch die sozialen Menschenrechte, die z.B. im Arbeitsleben asymmetrische Formen einseitiger Abhängigkeit überwinden wollen, drehen sich immer um Kommunikation. Ich würde sagen, dass dieses Intersubjektive mit der axiomatischen Struktur der Menschenwürde begründet und mit Rechten ausgestaltet wird, die immer auch die Rechte der Anderen sind. Arendts Kritik an den Menschenrechten ist mir zu kurz gegriffen, während ihr räumliches Denken, ihre Raummetaphern, dem Charakter der Menschenrechte nahekommt. Sie umspannen Räume, werden aber nicht in sie aufgelöst. Sie können den politischen Raum unter Druck setzen und neue Räume öffnen, quasi Türen in den politischen Raum brechen in Gestalt von Gerichtsbarkeit von außen oder Ansprüchen von außen. Da ist ein Element von Spannung drin und nicht nur von Missverständnissen.
F.: Die Beispiele, die Sie anführen sind aber Rechte, die das Recht auf Teilhabe voraussetzen oder haben wir Sie hier falsch verstanden? Denn Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Recht im Arbeitsleben sind doch Rechte, die die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen voraussetzen.
A.: Natürlich braucht des immer verfasste Politik, um Recht durchzusetzen. Die Pointe der internationalen Menschenrechte besteht aber genau darin, dass jede konkrete politische Gemeinschaft mit einem Anspruch konfrontiert wird, der ihr voraus liegt und der auch von außen eingefordert und ggf. eingeklagt werden kann.
F.: Es gibt bei Arendt beide Seiten des Rechts, das die Mauern der Polis, den Raum, abschließende Recht und das verbindende, öffnende Recht. Arendt kritisiert, das teilhabende Moment sei in den Menschenrechten nicht ausreichend enthalten.
A.: Aber in jedem einzelnen Menschenrecht ist es drin. In manchen ist es besonders explizit, z.B. in dem Recht auf Versammlungsfreiheit. Es geht bei ihnen allen immer um Interaktion, auch um Öffentlichkeit, um die Teilhabe.
F.: Dennoch gibt es in unserem Grundgesetz die Unterscheidung zwischen den „Jedermannrechten“ und den „Deutschenrechten“, also zwischen den allgemeinen Menschenrechten und den nicht allgemeinen Grundrechten für alle Bewohner unseres Landes. Wird da nicht die Teilhabe für Nichtdeutsche stark eingeschränkt?
A.: Neben dem Grundgesetz gibt es ja zum Beispiel auch die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats sowie die EU-Grundrechtscharta, die bald förmlich in Kraft treten wird. Darin sind manche der Rechte, die laut Grundgesetz den Deutschen vorbehalten sind, auch für Nicht-Deutsche gewährleistet, und zwar so, dass Deutschland daran gebunden ist. Es gibt demnach auch für Nichtdeutsche etwa die Möglichkeit zu demonstrieren, und zwar längst nicht mehr nur faktisch, sondern auch menschenrechtlich garantiert.
F.: Seyla Benhabib hat nun –wie Sie gerade auch- aufgezählt, welche Errungenschaften wir seit der allgemeinen Menschenrechtserklärungen in der EU erreicht haben. Nun müsste man doch auch fragen, warum dann viele Menschen diese Rechte nicht in Anspruch nehmen können. Liegt es nicht auch daran, dass viele Erklärungen verabschiedet wurden, aber diese Erklärungen für die Staatengemeinschaften keine rechtliche Bindung haben?
A.: Was sich im GG so nicht wörtlich findet, wird inzwischen von der Rechtsprechung berücksichtigt. Wenn man nun die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ berücksichtigt, so ist dort das politische Wahlrecht enthalten. So heißt es in Artikel 21: „Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.“ Da kommt man nun auf Arendts „Recht, Rechte zu haben“. Dieser Artikel ist zunächst einmal menschenrechtlich formuliert, und dann kommt plötzlich ein Element, nämlich „jeder“, und zwar weltweit, hat einfach als Mensch das Recht „in seinem Land“ mitzuwirken. Voraussetzung für dieses Recht ist, dass jeder Mensch Staatsangehöriger eines Staates ist, und zwar, noch genauer, Staatsangehöriger desjenigen Landes, in dem er faktisch seinen Lebensmittelpunkt hat. Das ist natürlich kontingent. Das Element des Realistischen ist, dass man sich schwer die Weltbürgerrepublik unmittelbar vorstellen kann, also dass jeder überall, wo er sich gerade aufhält, sei es als Tourist oder Geschäftsmensch, politische Mitbestimmung im Sinne des vollen Bürgerstatus wahrnimmt. Das wäre unsinnig. Es hat ja ein Moment der Plausibilität, dass die Demokratie ihren überschaubaren Raum, ihre lebensweltliche Orientierung, voraussetzt. Trotzdem heißt es nicht, dass nur die Mitglieder eines Staates dieses Recht hätten; jeder hat das Recht. Deshalb würde ich die sogenannten Staatsbürgerrechte konditionale Menschenrechte nennen. Sie sind der Gestalt nach universalistisch gedacht. Daher würde ich als Postulat formulieren, dass, um das verbriefte Menschenrecht tatsächlich ausüben zu können, die Menschen einen realistischen Zugang zu einer Staatsangehörigkeit haben müssen. Das befindet sich derzeit in einer Entwicklung. Und das ist das „Recht, Rechte zu haben“. Ich stimme mit Arendt nicht darin überein, dass es das einzige Menschenrecht wäre. Das ist ein Missverständnis.
F.: Arendt hat aber das „einzige Menschenrecht“ nicht so verstanden, dass es nur dieses geben sollte, sondern dass dieses einzige Menschenrecht, die Basis und Voraussetzung dafür ist, überhaupt andere Rechte einklagen zu können.
A.: Aber das ist hier zunächst einmal genau der entscheidende Punkt, und es ist keineswegs ein Postulat Bielefeldt, sondern der „UN-Ausschuss für die Überwachung des Internationalen Abkommens zur Beseitigung aller Formen rassistischer Diskriminierung“ sagt Dinge, die genau in diese Richtung gehen. Das ist so aufregend, weil die Antirassismus-Konvention, die aus den 60er Jahren stammt, ausdrücklich den Staaten die Möglichkeit einräumt, mit allen rechtlichen Folgen zwischen Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen zu unterscheiden. Staaten können also Staatsangehörigen andere Rechte gewähren. Inzwischen aber ist der für die Auslegung dieser Konvention zuständige Fachausschuss der UN der Ansicht, dass angesichts der faktischen Migrationsbewegungen die Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen und Nichtstaatsangehörigen rechtfertigungsbedürftig ist. Die ist sozusagen erst einmal verdächtig und nicht selbstverständlich. Sie ist nur zu rechtfertigen, wenn sie einem legitimen Ziel dient. Das ist eine besonders kühne Interpretation, weil sie expressis verbis dem Wortlaut widerspricht. Da ist man also weiter, denn es bedeutet aufgrund der faktischen Mobilität einen Bruch; da war Arendt eine der ersten, die das systematisch erfasst hat. Es gibt in der französischen Revolution die Unterscheidung „les droits de l’homme et du citoyen“, das wird nun immer problematischer. Wir müssen Bedingungen dafür schaffen, dass diese konditionalen Menschenrechte eine menschenrechtliche Bedeutung bekommen und nicht leerlaufen. Deshalb ist die Vergabe der Staatsangehörigkeit zunehmend nicht mehr ein Gegenstand allein völlig freier staatlicher Souveränität. Es war noch bis vor einem Jahrzehnt die herrschende Doktrin, dass über die Zusammensetzung ihres Staatsangehörigenverbandes die Staaten selber entscheiden. Arendt hat das hellsichtig antizipiert. Das ist die Einbruchstelle, wo es darum geht, auch politischen Zugang zu schaffen.
F.: Nun unterscheidet Arendt sehr deutlich zwischen dem herkömmlichen Völkerrecht, das zwischen den Staaten gültig ist und wo auch die Menschenrechte angesiedelt sind, und einer Gesetzlichkeit, die über den Nationen steht, auf der es nach der Erfahrung des Totalitarismus um die Verhinderung des Ausschlusses von Gruppen von Menschen oder ganzen Völkern aus der menschlichen Gemeinschaft geht, um die Verbrechen gegen die Menschheit und das Recht, Rechte zu haben. Das ist für sie die neue Wirklichkeit, der gegenüber die Menschenrechtserklärung der UN einen „auffälligen Mangel an Wirklichkeitssinn“ aufweist. (Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. In: Die Wandlung, Jg. IV,1949, S. 769. Siehe auch unter „documents“ 5/2009). Hat inzwischen eine Veränderung, eine Wirklichkeitserkenntnis im Arendtschen Sinn stattgefunden?
A.: Es gibt eine sehr interessante Diskussion über die sogenannte Konstitutionalisierung des Völkerrechts. „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ meint, dass sich innerhalb dessen, was man internationales Recht nennen müsste, verschiedene Normebenen ausbilden und dass es nicht mehr auf der flachen Ebene dessen, was Staaten untereinander vereinbaren, sondern auch auf einer die einzelnen Staaten überwölbenden Ebene normative Strukturen gibt, die der Souveränität der Staaten Grenzen ziehen. Das ähnlich der Verfassung, die dem Gesetzgeber Handlungsmöglichkeiten gewährt, aber zugleich fordert, dass Fundamentalnormen respektiert werden, worüber dann das Verfassungsgericht wacht. So wie es nicht nur das Gesetz, sondern auch das Verfassungsgesetz gibt, soll es auf der internationalen Ebene nicht nur das Vertragsrecht, die Konventionen, geben, deren Inhalt nicht völlig beliebig ist, sondern überwölbend auch eine neue Struktur, die deren Einhaltung überwacht. Es gibt nun in der Tat den Streit innerhalb der Völkerrechtsdisziplin über die Reichweite dieser Struktur, nicht aber darüber, ob sie überhaupt eingerichtet werden soll. - Also die Antwortet lautet: Ja es gibt eine Änderung im Sinne Arendts. Auch die UN-Charta ist kein einfacher völkerrechtlicher Vertrag, sie hat schon einen anderen Status, wenn sie auch keine umfassende Verfassungsurkunde ist. Auch der Stellenwert, der dem Gewohnheitsrecht zukommt, geht in diese Richtung. Das klingt wie eine altmodische Kategorie, aber im Völkerrecht ist das eine sehr dynamische Kategorie, dass man sozusagen Usancen feststellen kann, an die die Staaten gebunden sind. Oder eine Kategorie wie Jus Cogens, das zwingende Recht, das verbindliche Normen betrifft, von denen sich auch staatliche Verträge nicht distanzieren können. Kein Staat darf mit einem anderen Staat einen Vertrag zur Wiedereinführung des Sklavenhandels schließen, der wäre nicht gültig. Wir haben so etwas wie ein institutionell noch wenig entwickeltes Regime jenseits dessen, was man klassischerweise das Völkerrecht, das Verkehrsrecht zwischen souveränen Staaten, nennt. Die Menschenrechte sind der inhaltliche Kern dieses Konstitutionalisierungsprozesses. Kein Staat kann sich einfach außerhalb stellen, es ist dann natürlich eine Frage der effektiven Durchsetzung, und dann ist es natürlich immer eine Frage, wie viel Öl oder Gas der Staat besitzt. Aber der Anspruch ist ganz klar, dass die Menschenrechte nicht nur Gegenstand positiven Konventionsrechtes sind, sondern in einigen Punkten dem Jus Cogens entsprechen. Das gilt dann unverbrüchlich. Also, das was Arendt postuliert, hat mittlerweile doch institutionelle Gestalt gefunden, wenn auch noch nicht in einer befriedigenden Form.
F.: Wenn das in etwa dem Arendtschen einzigen übergeordneten Menschenrecht entspricht, legen dann nicht ihre Ausführungen nahe, die Rechte, die gemeinhin als Menschenrechte bestimmt werden, einfach als politische Rechte zu verstehen?
A.: Ich nehme das sehr ernst, wenn Arendt sagt, dass das einzige Menschenrecht das Recht ist, Rechte zu haben. So hat sie ja sogar ihren Aufsatz überschrieben. Ich glaube, da gibt es tatsächlich einen Kategorienfehler, denn da kommt eine Zweideutigkeit in dem Begriff des Universalismus zum Tragen. Menschenrechte sind universalistische Rechte, das ist klar, aber was heißt eigentlich Universalismus? Sehen wir uns zur Beantwortung dieser Frage den Gegenbegriff an. Da gibt es häufig zwei Antworten: zum einen wäre dies der Partikularismus, zum anderen das Lokale oder Regionale im Unterschied zum Globalen. Der letztere Sprachgebrauch ist in der juristischen Literatur dominant. Universalismus bedeutet dort z.B. das UN-System, und die universalen Menschenrechte wären da Menschenrechte, wie sie von den Normen und Institutionen der UN garantiert werden. Die andere Antwort scheint mir aber sinnvoller zu sein, nämlich die Menschenrechte insgesamt zu verstehen als Gegenbegriff zu Partikularität. Demnach sind Menschenrechte diejenigen Rechte, die nicht von irgendwelchen partikularen Status-Positionen abhängig gemacht werden dürfen, von Rollen, die man verändert, sondern sich auf die Menschen qua Menschsein beziehen. Menschenrechte sind die grundlegenden, die Grundrechte, die dem Menschen aufgrund des Menschseins zukommen, man könnte auch sagen, aufgrund der Menschenwürde. Der Gegenbegriff zu den universalen Menschenrechten wäre dann nicht regionale Ordnungen, sondern die Verweigerung der grundlegenden Rechte. Partikularismus heißt dann politisch Diskriminierung und Exklusion. Wenn man beides durcheinander wirft, und Arendt hat es meiner Meinung nach durcheinander geworfen, dann kommt man zu einem problematischen Ergebnis. Eine Folge wäre dann z.B., was Arendt nicht tut, die Europäische Menschenrechtskonvention nicht als universalistisch zu verstehen. Sie ist meines Erachtens universalistisch, weil sie sich nur am Menschsein des Menschen orientiert. Das gilt für alle Menschen, die sich allerdings innerhalb eines Territoriums aufhalten. Aufgrund dieser Beschränkung ist sie nicht global, wohl aber universalistisch. Was Arendt plausiblerweise meint, wenn sie das Recht, Rechte zu haben als einziges Menschenrecht bezeichnet, ist, dass es das einzige Recht ist, das seiner Struktur nach nur als global zu gewährleisten gedacht werden kann. Alle anderen Rechte können in territorial begrenzten Räumen gelten. Die Menschenrechte haben einen diese Räume umspannenden, einen supranationalen Anspruch, aber sie können in regionalen Kontexten gewährleistet werden wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit etc. Dennoch sind das für mich Menschenrechte. Hätte Arendt gesagt, das Recht auf Zugang zur Rechtsgemeinschaft, von außen organisiert, ist das einzige Menschenrecht, das seiner Struktur nach kosmopolitisch ist, dann hätte sie recht. Sie verwechselt Kosmopolitanismus mit Universalismus. Das ist aber aufgrund des Sprachgebrauchs der Juristen ein naheliegender Kategorienfehler. Kant teilt in „Zum ewigen Frieden“ den Universalismus in drei Kategorien, der Republikanismus, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. Aber universalistisch ist auch der Republikanismus, alles ist universalistisch, auch wenn das Recht einzelstaatlich organisiert ist, sofern es für Menschen als Menschen und nicht aufgrund ihres Status gelten. Das Recht auf Rechte ist der Struktur nach überhaupt nur supranational organisierbar, und, wenn man es zu Ende denkt, nur als kosmopolitisches Recht. Es ist das einzige Menschenrecht, das zugleich ein Weltbürgerrecht ist. Hätte sie das so formuliert, hätte Arendt recht. „Es gibt nur ein einziges kosmopolitisches Recht“, diesem Titel könnte ich mich anschließen. In ihrer Definition kommt eine defensive Haltung zum Vorschein, ihre Skepsis gegenüber Menschenrechten als eine kosmopolitische Illusion, bei der der ohnehin ihrer Ansicht nach bedrohte Nationalstaat entwertet wird. Angesichts ihrer Wertschätzung der Kategorie der Räumlichkeit kommt ihr der Universalismus wie eine Zerstörung des Raumes vor. Bei der Frage des Weltbürgerrechts ist Kant aber auch vorsichtig, auch Habermas. Es geht nicht um einen Weltstaat, aber doch um mehr als nur einen Verband der Republiken. Es geht um den Zugang, der nicht nur immanent in den Staaten geregelt werden kann, denn da bleibt immer eine Gruppe von Menschen übrig, die expatriiert werden.
F.: So genießen die Flüchtlinge heute trotz der Menschenrechte keinen Schutz, weil das Recht, Rechte zu haben noch nicht verwirklicht ist? Arendt beschreibt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, wie die wachsende Zahl von Flüchtlingen und Staatenlosen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Erosion der Nationalstaaten führte, weil die Geschicke dieser Menschen von der Polizei verwaltet wurde und damit die Polizei zunehmend zu einem Staat im Staate wurde. Der politische Raum wurde eingeschränkt und Politik zu unkontrollierter Verwaltung. Besteht heute diese Gefahr auch angesichts der zahlreichen Flüchtlinge, die nach Europa kommen ? Sie genießen zwar die Menschenrechte. Man lässt sie nicht im Mittelmeer ertrinken, aber sie werden in Lagern zusammengepfercht, und sie genießen das Recht der medizinischen Versorgung, aber sobald sie erkannt werden, werden sie abgeschoben.
A.: Das ist für die europäische Innenpolitik das größte Drama, die größte menschenrechtliche Herausforderung. Es gibt in der Tat Tendenzen, die man mit den Arendtschen Kriterien sehr präzise beschreiben kann, nämlich eine Vorverlagerung des Außengrenzschutzes bis in die Mittelmeer-Anrainerstaaten hinein. Er wird von Frontex, der EU-Grenzschutzbehörde mit Sitz in Warschau, wahrgenommen und immer weiter nach außen verlagert, zum einen in die Hohe See hinein, zum anderen mit Abkommen mit Marokko, Libyen, Tunesien etc. in die Anrainerländer hinein. Man wundert sich auch, mit wem da plötzlich Abkommen geschlossen werden. Nun gilt hier eine menschenrechtliche Kernverpflichtung, das, was Arendt mit dem Rechte auf Rechte, dem Zugang zur Rechtsgemeinschaft überhaupt, meinte, nämlich das Non-Refoulement, das Verbot, Personen in einen Staat zu befördern, in dem sie Folter oder anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt würden. Das ist nun negativ bestimmt, und es ist auch noch nicht das volle Recht, Rechte zu haben, aber es ist die Zusicherung der Staaten, nicht abzuschieben, wenn Folter oder die Gefährdung von Leib und Leben drohen. Diese Non-Refoulement-Gebot ist Inhalt der Genfer Flüchtlingskonvention, es ist aber auch an dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention, in der es expressis verbis nicht genannt ist, etabliert worden, es gibt also sehr klare, harte menschenrechtliche Verpflichtungen: Keine Abschiebung in eine Foltersituation. Dieses Non-Refoulement, dieser Kern von einem Recht, Rechte zu haben, wird nun faktisch dadurch unterlaufen, dass man den Grenzschutz immer weiter nach vorne verlagert und das Gebot restriktiv interpretiert; es wird nun gerade nicht mit nach vorne verlagert. Wir haben hier also einen Zwischenbereich, wo man wirklich sagen muss, wir haben hier im Sinne des Rechtsschutzes ein systematisch aufgebautes Loch. Wenn man das ganz hart kommentieren will, kann man sagen, auch wenn es die Intentionen der Handelnden nicht ganz widerspiegelt, es ist so wie Guantánamo. Guantánamo ist sozusagen die Errichtung eines Raums auf einem Territorium, der rechtlos sein soll und in dem die vorhandenen Rechtsansprüche leerlaufen sollen. Das, was hier in der EU passiert, ist sicher kein intendiertes Guantánamo. Niemand will das, und man versucht auch, die Probleme humanitär aufzufangen, indem Frontex z.B. für die Rettung aus Seenot zuständig ist. Die Lage ist kompliziert, aber systematisch gesehen haben wir es hier in der Welt mit einer Zone der Weltlosigkeit, einer Zone faktischer Rechtsverweigerung zu tun. Es gibt zwar humanitäre Initiativen, das ist die wohlwollende Variante des Polizeistaates, der die Leute aufgreift, um sie vor dem Ertrinken zu retten, aber es wird den Flüchtlingen nicht der Zugang zum Recht gewährleistet. Man schickt sie woandershin, es gibt diplomatische Abkommen, die nicht genau überprüfbar sind. Hier droht eine sehr klare menschenrechtliche Norm, das Prinzip des Non-Refoulement, zunehmend leerzulaufen. Das ist ein sehr großes Problem, das nicht nur die Anrainerstaaten betrifft, sondern auch die EU, denn EU-Politik wird in den Hauptstädten gemacht, die Außengrenzen der EU laufen bildlich gesprochen auch über Berlin.
F.: Inwieweit genießen denn die sogenannten ‚Illegalen’ ohne Aufenthaltspapiere die Menschenrechte, wenn sie doch von der Abschiebung bedroht werden?
A.: Theoretisch sieht es ganz gut aus, denn diese Flüchtlinge haben einen rechtlich abgesicherten Anspruch auf Gesundheitsversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Jeder, der hier lebt, unabhängig vom Aufenthaltstitel, hat an sich seine Menschenrechte, wozu die Rechte auf Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem zählen. In der Praxis ist das aber ein riesiges Problem, weil es für die Inanspruchnahme einen politisch gespannten Stolperdraht in Gestalt der Meldepflichten an die Ausländerbehörde gibt. Nicht der Arzt, der der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt, womöglich aber die Gesundheitsbehörde unterliegt dieser Meldepflicht, und schwerere Krankheiten, Krankenhausaufenthalte, z,B. auch Entbindungen, mit den entsprechenden Fragen nach Kosten und Versicherungen werden dann zum Problem. Das wird je nach Bundesland unterschiedlich gehandhabt. In diesen Fällen können die Flüchtlinge die ihnen verbrieften Rechte nicht wirklich in Anspruch nehmen. Ein anspruchsvolles und auch angemessenes Verständnis der Menschenrechte enthält die Forderung, dass der Staat diese Menschenrechte nicht nur theoretisch befürwortet, sondern auch diese Stolperdrähte, vor allem die von ihm selbst gespannten, aus dem Weg räumt.
F.: Wenn man Arendts positiven Freiheitsbegriff, dass es Freiheit nur im Handeln gibt und nicht theoretisch, auf die Rechte überträgt, dass Rechte nur dann tatsächlich bestehen, wenn sie auch praktische Anwendung finden, dann stellt sich die Frage, inwieweit es in diesem Fall Menschenrechte tatsächlich gibt.
A.: Ich glaube, dass eine gewisse Differenz zwischen Geltungsanspruch und faktischer Einlösung unverzichtbar dazu gehört. Das Recht ganz und gar von einer faktischen Durchsetzungschance abhängig zu machen, würde das Recht zerstören. Es gibt viele Bereiche, bei denen wir wissen, dass eine Differenz, eine Spannung zwischen
Geltungsanspruch und Umsetzung existiert. Zynisch wäre natürlich die Erklärung, wir formulieren hier ein Recht und sorgen nicht dafür, dass es einlösbar ist, das wäre ein Missbrauch des Rechts. Das Recht ist natürlich auf Durchsetzbarkeit angelegt, aber man kann es nicht von der faktischen Durchsetzbarkeit abhängig machen. Man kommt sonst in Teufels Küche und könnte das ganze Völkerrecht zusammenklappen. Der Staat als Garant der Rechte hat dafür zu sorgen, dass die Rechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern praktiziert werden.
F.: Arendt kritisierte zwar das Souveränitätsdenken der neuzeitlichen Nationalstaaten und sprach sich für Föderationen aus, respektierte es aber. Humanitäre Interventionen kamen für sie noch nicht bei der Außerkraftsetzung von Rechten und Inhaftierungen infrage, wohl aber bei der Einrichtung von Konzentrationslagern. Die Intervention im Kosovo wurde mit der ethnischen Säuberung begründet, aber die Invasion im Irak wurde als angeblicher Präventivkrieg begründet und mit der Demokratisierung gerechtfertigt. Was schützt uns vor willkürlichen humanitären Interventionen?
A.: Es gibt seit einigen Jahren eine neue Doktrin, mit der sich die Generalversammlung der UN 2005 beschäftigt hat, die „Responsibility to Protect“. Sie ist von der „Internationalen Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität“ erarbeitet worden, in der sich die Kanadier sehr bemüht haben. Hier gibt es Ähnlichkeiten zu Arendt. Es ist ein vorsichtiger Ansatz. Da wird zunächst einmal festgestellt, dass die Staaten dafür verantwortlich sind, wie sie ihre internen Angelegenheiten regeln. Das ist gegen eine mögliche Inflation humanitärer Interventionen gerichtet und zunächst einmal von konservativen Prämissen her gedacht: Staaten sind souverän, aber die Souveränität wird unter strenge Bedingungen gestellt. Wenn Staaten nicht in der Lage sein sollten, ihre elementare Funktion als Garanten der Rechte der Bevölkerung auszuüben, nicht bei Unterdrückung der Pressefreiheit oder bei Diskriminierung, die bei allen Gesellschaften zu beobachten ist, wohl aber bei Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen aus der Rechtsgemeinschaft, siehe Failed States, dann wäre das so etwas, dann ist die internationale Völkergemeinschaft gefordert, dann ist der Souveränitätsanspruch verwirkt.
F.: Es geht also nicht darum, welche Verbrechen haben in ihrem Ausmaß eine gewisse Grenze überschritten, sondern um das Aliud, das Andere, das sich in dem Ausschluss zeigt, bei dem es keinerlei Rechte mehr gibt.
A.: Genau. Guantánamo ist ein klassisches Beispiel. Deshalb war es auch so ein Skandalon, dass hier ein Land, die USA, das in Fragen der Demokratie lange Zeit als Vorbild gegolten hat und jetzt auch die Vorbildfunktion für sich wieder neu gewinnen will und das eines der Mutterländer der Menschenrechte war, ganz zynisch genau diese Lagersituation organisiert hat. Guantámano ist eben nicht ein Gefängnis, in dem es etwas härter zugeht mit tropischen Temperaturen, sondern es ist ein Aliud, der Versuch, einen rechtsfreien Raum zu organisieren, exterritorial, aber auch nicht auf dem Territorium eines anderen Landes, auf jeden Fall unter eigener Kontrolle. Aber der Oberste Gerichtshof hat schon früh, 2004, seine Zuständigkeit erklärt. Damit war es der Konzeption nach schon durchkreuzt.