Ausgabe 1, Band 4 – Mai 2008
Zwei neue Ausgaben von Hannah Arendts Dissertationsschrift
Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin: Versuch einer philosophischen Interpretation, hrsg. und mit einem Vorwort von Ludger Lütkehaus, Berlin-Wien: Philo Verlagsgesellschaft, 2003. – 134 Seiten.
Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin: Versuch einer philosophischen Interpretation, mit einem einleitenden Essay von Frauke-Annegret Kurbacher, Übersetzungen von Kirsten Groß-Albenhausen und Registern von Christine Albrecht, Hildesheim etc.: Georg Olms (Philosophische Texte und Studien, 90), 2006. – XLVI, 90, *59 Seiten.
Jahrzehntelang war Hannah Arendts erste Veröffentlichung, die 1929 im Verlag von Julius Springer erschienene schriftliche Promotionsarbeit Der Liebesbegriff bei Augustin, nur in Bibliotheken oder auf dem Antiquariatsmarkt verfügbar. Nun aber sind in jüngster Zeit gleich zwei Ausgaben im Druck erschienen: bei Philo und bei Olms. Die Philo-Ausgabe enthält einen Neudruck (ohne Copyright-Angabe), während die Olms-Ausgabe (mit Genehmigung des Springer Verlages) den grosszügigen Originaldruck im Faksimileverfahren anbietet.
Als Herausgeber zeichnen Ludger Lütkehaus (Philo) und Frauke Annegret Kurbacher (Olms). Lütkehaus reichert seine Ausgabe durch zwei sinnvoll ausgewählte Anhänge an: das Dissertationsgutachten von Karl Jaspers und Arendts Aufsatz „Augustin und der Protestantismus“, der 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Demgegenüber enthält die Ausgabe von Kurbacher einen umfangreichen, ca. 40seitigen Teil „Übersetzung der lateinischen und griechischen Zitate“ von Kirsten Groß-Albenhausen sowie ein Personen- und ein Sachregister von Christine Albrecht (Seiten *1-59).
In beiden Editionen sind dem kurzen Arendtschen Text (90 Seiten in der Originalfassung) Vorwörter vorangestellt. Der Literaturwissenschaftler Ludger Lütkehaus (Universität Freiburg), der sich in Sachen Arendt–Heidegger gut auskennt, hebt auf den Gedanken der Natalität/Gebürtlichkeit ab – teilweise mit gewandt-gewagten Formulierungen. Für ihn sind die Wurzeln von Arendts Philosophie des Anfangs, ihrer „Natalitätsphilosophie“, bereits in diesem frühen Werk erkennbar. Dazu sei jedoch angemerkt, dass der Begriff „Natalität“ (oder „Gebürtlichkeit“) in der Schrift nicht vorkommt, ja dass nicht einmal das entscheidende Augustin-Zitat „Initium [...] ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit“ hier schon herangezogen wird.
Die Philosophin Frauke-Annegret Kurbacher setzt sich mit Lütkehaus, dessen Edition immerhin einige Zeit vor der ihren erschienen war, nicht explizit auseinander. Es ist jedoch zu vermuten, dass sie seine Interpretation jenen von ihr kritisierten zuschlagen würde, die die Dissertation „in ihrer möglichen Bedeutung für Arendts gesamtes Schaffen und z. T. auch für ihr Denken überhaupt“ sehen (S. XII). Diesem Interpretationsmuster will sie nicht folgen, sondern betont „die Eigenständigkeit dieser Frühschrift“. In ihrem umfangreichen einleitenden Essay „Liebe zum Sein als Liebe zum Leben“ stellt sie sie in Bezug zu anderen „Liebestheorien“, insbesondere der „von Arendt nicht eigens bedachte[n] Liebestheorie von Christian Thomasius“ (S. XXI). Es gelingt ihr mit diesem Ansatz, viel Erhellendes und Diskussionswürdiges herauszuarbeiten, z.B. die schon im Titel angedeutete These von der (teilweisen) Parallelisierung von Liebe und Leben bei Augustin und Arendt. Der eigene Anspruch, „das von Arendt Gedachte in einen grösseren philosophiehistorischen und systematischen Rahmen zu stellen“ (S. VIII) wird aber nur bedingt eingelöst.
Beide Herausgeber haben keine kritischen Ausgaben des Arendt-Textes vorgelegt, ohne dies ausführlich zu begründen. Lütkehaus stellt, den Sachverhalt verklärend, fest: Allein die Originalfassung von 1929 zeigt „den Anfang einer Philosophie des Anfangs“ (S. 20). Der Leser sei aufgefordert, den Text unmittelbar (ohne die Zwischenschaltung eines kritischen Apparates) zur Kenntnis zu nehmen. Kurbacher dagegen bietet mit den Übersetzungen und Registern Lesehilfen. Hinsichtlich der Übertragung der Augustinus-Zitate schreibt sie (S. VIII), es handele sich „um erste Orientierungshilfen und lediglich Interpretationsangebote“. So sympathisch bescheiden dies Angebot verpackt ist, der Nutzen für den Leser hält sich leider in Grenzen. Um Arendts „Art von deutsch-lateinischem akademischen Pidgin“ (Lütkehaus – Arendt selbst spricht in einem Brief an Jaspers von „philosophischer Stenographie“) aufzulösen, muss der des Lateinischen Unkundige bei Benutzung von Kurbachers Ausgabe viel Geduld aufbringen. Auf jeder Seite muss er mehrfach zwischen Text und Übersetzung hin- und herblättern, wobei erschwerend hinzukommt, dass in den Text keine Zeilenzählung eingefügt wurde und die lateinischen/griechischen Wörter, Satzbruchstücke und Sätze im Übersetzungsteil nicht wiederholt werden. Letzteres ist besonders verdriesslich, weil „Wörter nur einmal, mit ihrem ersten Erscheinen, aufgenommen und nicht an wiederholten Stellen erneut übersetzt werden“ (S. *1). Auf diese Weise wird die denkende Lektüre, ein Verstehen, das mit Hannah Arendt denkt und dem, was sie niedergeschrieben hat, „nach ─ denkt“, sicher nicht befördert – wie auch das ausführliche Sachregister (16 zweispaltig gedruckte Seiten für 90 Seiten Text!) eher zum häppchenweisen Konsum anregen dürfte als zu dem Versuch, sich auf Arendts Argumentation in allen ihren Facetten einzulassen.
Der Verzicht auf eine kritische Edition hat auch zur Folge, dass die von Arendt vorgenommene Überarbeitung ihrer frühen Veröffentlichung aus den 1960er Jahren unberücksichtigt bleibt. Seinerzeit hatte E. B. Ashton, der bekannte Jaspers-Übersetzer, eine englische Übersetzung angefertigt, die Hannah Arendt bei der Durchsicht für eine geplante Veröffentlichung zu überarbeiten begann, ohne dass sie das Projekt zu Ende geführt hätte. Lütkehaus und Kurbacher erwähnen beide dieses Faktum und verweisen (Lütkehaus detaillierter als Kurbacher) auf die postume amerikanische Ausgabe Love and St. Augustin, die Joanna Vecchiarelli Scott und Judith Chelius Stark vorgelegt haben (University of Chicago Press, 1996). Aber sie geben keine genauen Auskünfte über die vorgesehenen Veränderungen – etwa in der Art, wie sie seit den 1980er Jahren bei Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Arendt-Biographie zu finden sind (siehe dort im Anhang das Kapitel „Arendts Dissertation: Eine Synopse“).
Mit beiden Veröffentlichungen ist also nur ein Schritt auf dem Weg zur kritischen Aufarbeitung des Arendtschen Frühwerkes getan, der hier nicht kleingeredet werden soll. Auch angesichts der Tatsache, dass Arendts Dissertation mit zunehmender Aufmerksamkeit bedacht wird (siehe dazu die Besprechung von Ingeborg Nordmann über die Magisterarbeit von Tatjana Noemi Tömmel in dieser Ausgabe von HannahArendt.net), verstärken die Neuausgaben den Eindruck, dass die Zeit reif ist für einen Anfang, den Anfang nämlich einer kritischen Hannah-Arendt-Gesamtausgabe. Was diese erste veröffentlichte Schrift in Arendts deutsch-englischem Gesamtwerk aus mehr als fünfzig Jahren angeht, so haben L. Lütkehaus und das Team von Nachwuchswissenschaftlerinnen um F.-A. Kurbacher sowie, ihnen vorangehend, die amerikanischen Forscherinnen J. V. Scott und J. C. Stark hierzu wertvolle Vorarbeiten geleistet.
Ursula Ludz