Ausgabe 1, Band 4 – Mai 2008
Hannah Arendt in München (1949/50)
Natan Sznaider
Arendt reiste 1949 nach Deutschland, um Verhandlungen mit deutschen und amerikanischen Behörden zu führen. Sie war keine Deutsche mehr, und noch war sie keine amerikanische Staatsbürgerin. Sie verhandelte als staatenlose Jüdin, aber als Emissärin einer jüdischen Organisation. Sie handelte. Aus Deutschland schickte sie „field reports“ in das Büro in New York. Die Berichte, die bislang unveröffentlicht in israelischen und amerikanischen Archiven liegen und auf die ich mich hier beziehen werde, sind ein gutes Beispiel für das selbstbewusste Auftreten Arendts. Ihr war klar, dass sie im Auftrag des jüdischen Volkes mit deutschen Bibliothekaren und Museumsverwaltern verhandeln musste. Sie wusste, dass sie auf den guten Willen dieser Menschen angewiesen war; denn nach dem Krieg tauchte viel jüdisches Kulturgut in eben diesen deutschen Institutionen auf. Und sie wusste auch, dass die Bibliotheken nicht gerade enthusiastisch auf jüdische Appelle reagieren würden, dieses Kulturgut der „Jewish Cultural Reconstruction“ zur Verfügung zu stellen. In dem Archiv der Stanford University im Nachlass von Salo Baron, aus dem die hier zitierten Berichte stammen, befinden sich auch mehrere Protokolle von Sitzungen, die alle auf das Gleiche hinweisen: Jüdische Intellektuelle waren unermüdlich damit beschäftigt, das von den Nazis geraubte Kulturgut nach Kriegsende aus Europa herauszubringen. Lebendige Tradition könnte es nur da geben, so ihre Argumentation, wo auch Juden lebten.
Ein Großteil der Korrespondenz ist in englischer Sprache verfasst, die natürlich nun die Geschäftssprache der „Jewish Cultural Reconstruction“ war. Hier lernen wir Hannah Arendt als Geschäftsführerin kennen. Die Sprache ist trocken, bürokratisch. Man erkennt die Dringlichkeit der Aufgabe, die ohne großes Pathos wahrgenommen wird. So schrieb sie am 12. Juni 1951 ein Memo an den Aufsichtsrat der „Jewish Cultural Reconstruction“, in dem sie über die Verteilung von 18 Kisten und 450 Kulturgegenständen berichtete. Sie sprach von sechs jüdischen Museen in New York sowie dem Bezalel Museum in Jerusalem. Mit ihren Mitarbeitern überlegte sie, in welches dieser Museen dies nun alles geschickt werden sollte.
Zwischen Arendt und Gershom Scholem gibt es in dieser Zeit einen geschäftlichen Briefverkehr, der so gar nicht sensationell ist und wo keine großen ideologischen Fragen behandelt werden. Die Briefe in den Jahren 1949 bis 1951 drehten sich oft um die technischen Details der Abwicklung, um Mikrofilme, um Verschickung von Materialien, um Transportkosten und Verhandlungen mit deutschen Behörden. Manchmal vergisst man beim Lesen, worum es letztendlich geht – um die Abwicklung jüdischer Kultur in Europa. Dabei waren nicht Detailfragen zu klären, sondern es ging auch um große Politik. In einem Brief, den Scholem am 30. April 1950 an Arendt schrieb, machte er sie auf einen Zwischenfall aufmerksam. Er erwähnte ein Interview, das einer der Mitarbeiter der „Jewish Cultural Reconstruction“ einer Jiddischen Zeitung in New York gegeben hatte. Dieser Mitarbeiter berichtete, dass eine Sammlung von Büchern, die ursprünglich aus den baltischen Staaten stammte, nach Jerusalem verschifft worden war. Nun gab es zwar in Estland, Litauen und auch Lettland kaum mehr Juden, doch die Sowjetunion beanspruchte einen Großteil des Materials als ihren Kulturbesitz. Die amerikanischen Behörden hatten keine Probleme, der Sowjetunion die entsprechenden Forderungen abzuschlagen – nicht zuletzt weil sie die Annexion der baltischen Staaten nicht anerkannten. Entsprechend fassten die amerikanischen Militärbehörden den Beschluss, kein Kulturgut in die von der Sowjetunion annektierten Gebiete rückzuerstatten. Auf diese Weise wurde die „Jewish Cultural Reconstruction“ Teil des nun beginnenden Kalten Krieges. Auf der anderen Seite hatte Israel zu dieser Zeit immer noch gute Beziehungen zur Sowjetunion. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie jüdische Politik zwischen die Fronten des Kalten Krieges gelangte. Scholem war sehr verärgert über dieses Interview, da er glaubte, dass der sowjetische Geheimdienst die jiddischsprachige Presse in New York nach Informationen ausspionierte, und er befürchtete, dass die Sowjets sehr ungehalten sein könnten, wenn sie erführen, dass jüdisches Kulturgut aus den baltischen Staaten nach Israel verschickt worden war. Scholem erklärte Arendt in diesem Zusammenhang, dass die diplomatischen Positionen Israels und der USA gegenüber der Sowjetunion nicht dieselben seien.
Der erste Besuch von Arendt in Deutschland (November 1949 bis März 1950) ist bekannt und auch schon oft kommentiert worden. Der veröffentlichte Briefwechsel mit Heinrich Blücher aus dieser Zeit gibt zu erkennen, wie Arendt sich fühlte. Privates aus dieser Zeit kann man auch in dem noch unveröffentlichten Briefwechsel mit ihrer Freundin Hilde Fränkel finden. Der mittlerweile berühmte Essay „The Aftermath of Nazi Rule“ („Besuch in Deutschland“) gehört zum bekannten Arendt-Kanon. Die Stimmung in diesem Essay ist mehr als dunkel und spiegelt auch wieder, was sie ihrem Mann am 14. Dezember 1949 schrieb:
Die „Unfähigkeit zu trauern“, die Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem gleichnamigen Buch später theoretisch aufarbeiten sollten, wurde von Arendt konkret erfahren. Aber sie war sich auch klar darüber, dass Deutschland und Europa für Juden abgeschlossene Kapitel bedeuteten. Vielleicht blieb noch die Sprache, aber mehr auch nicht.
Arendt war in den acht Jahren USA zu einer amerikanischen Jüdin geworden. Als solche fuhr sie nach Deutschland, im Namen des amerikanischen und internationalen Judentums verhandelte sie dort mit Beamten und Behörden. Daran war eigentlich nichts Verwunderliches; denn Arendt arbeitete seit 1933 für jüdische und zionistische Institutionen. Zunächst im Pariser Exil, wo sie für die Auswanderung jüdischer Kinder und Jugendlicher nach Palästina zuständig war. Sie nahm an der Gründungsversammlung des „World Jewish Congress“ 1936 in Genf teil, der auf internationaler Ebene der nationalsozialistischen Bedrohung etwas entgegenzusetzen versuchte. Als sie 1941 in die Vereinigten Staaten weiter fliehen musste und dort endgültig ihre neue Heimat fand, arbeitete Arendt ab 1944 als Forschungsleiterin und dann, von 1948 bis 1952, als Geschäftsführerin für die „Jewish Cultural Reconstruction“. Heute ist Arendt mehr als Kritikerin des territorialen Zionismus bekannt – die Kritik Scholems an ihr hat viel dazu beigetragen, sie dem linken Spektrum der Zionismuskritik zuzuordnen. Dabei war ihre Kritik am Zionismus eher Teil der innerjüdischen Auseinandersetzung, bei der es sich darum drehte, ob die USA oder Israel die richtigen Alternativen für jüdisches Leben nach dem Holocaust wären. Einig war man sich dagegen in der Einschätzung Europas und insbesondere Deutschlands. Arendt besuchte Deutschland, auch um ehemalige Freunde und Bekannte wiederzusehen. 16 Jahre war sie nicht mehr dagewesen. Ihre deutsche Staatsangehörigkeit besaß sie nicht mehr, ihre amerikanische noch nicht. Staatenlos kam sie nach Deutschland. Staatenlos, aber nicht völlig machtlos. Ihr Besuch war ja nicht nur ein Privatbesuch. Die geschäftliche Dimension ist ziemlich klar einem Brief an Blücher zu entnehmen, den sie am 26. Dezember 1949 aus Basel schrieb, als sie Jaspers dort besuchte:
Insbesondere soll hier Arendts Aufenthalt in München beleuchtet werden. Mit wem traf sich Hannah Arendt in München im Dezember 1949 und 1950 Ende Januar (22. bis 25.)? Um welchen Appell geht es hier? Von welcher Regierungsverordnung spricht Arendt? All das geht aus den „field reports“ hervor, die Arendt aus Deutschland in ihr Büro nach New York schickte. Die Ziele des Besuchs in Deutschland und insbesondere in München waren ziemlich klar gesteckt, nämlich Informationen über von Nazis beschlagnahmtes jüdisches Kulturgut zu bekommen. Die „Jewish Cultural Reconstruction“ war sich darüber im Klaren, dass sich sehr viel Material in deutschen Archiven, Bibliotheken, und Museen befinden müsste. Deshalb suchte die Organisation auch die Kooperation mit den deutschen Behörden. Sie bemühte sich aber nicht nur um die Rückerstattung ehemaligen jüdischen Eigentums, sondern suchte auch nach Restitutionsmöglichkeiten.
Arendt traf sich mit Vertretern der damaligen bayerischen politischen Elite – so mit Gustav Hofmann, dem Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek und Ersten Vorsitzenden des „Vereins Deutscher Bibliothekare“. Mit ihm verhandelte sie im Dezember 1949, und Hofmann veröffentlichte nach diesem Treffen den erwähnten Appell. Dieser erschien Anfang 1950 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Nachrichten für wissenschaftliche Bibliotheken. Er hatte folgenden Wortlaut:
Dieser Aufruf wurde 1952 nochmals wiederholt. Hofmann glaubte nicht daran, dass die Bibliotheken freiwillig Material abgeben würden (es gab in der Tat – soweit bekannt – auch keine Reaktionen auf den Appell) und wollte sich für ein Regierungsdekret in dieser Sache stark machen. Arendt war sehr angetan von Hofmanns Ernsthaftigkeit, von der sie in ihrem Feldbericht auch so berichtete. Ein Dekret war auch deshalb wichtig geworden, weil die Gesetzeslage der Rückerstattung (ein amerikanisches Militärgesetz aus dem Jahre 1949, das „Law 59“ welches u,a, auch jüdische Organisationen zu Nachfolgeorganisationen der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Deutschland ernannte und damit Arendts Arbeit für die „Jewish Cultural Reconstruction“ legitimierte) nur Besitz im Wert über 1000 DM betraf, wobei allerdings viele der konfiszierten Bücher Einzelstücke waren und unter diesem Wert gehalten werden konnten. Ein neues Gesetz würde die Arbeit der „Jewish Cultural Reconstruction“ sehr erleichtern. Arendt berichtete auch, dass sie befürchtete, viele Bücher könnten erst später entdeckt werden, da die meisten Bibliotheken ihre Bestände nach dem Krieg noch nicht ausgepackt hätten.
Hofmann riet ihr, sich mit Dieter Sattler in Verbindung zu setzen, dem damaligen Staatssekretär für die schönen Künste in Bayern. Über Sattler sollte sie einen Kontakt zu Alois Hundhammer, dem damaligen Minister für Unterricht und Kultur, knüpfen. Hundhammer als der Vorsitzende der Ständigen Konferenz der Kultusminister konnte ein Dekret veranlassen. Bevor sich Arendt mit Sattler traf, sprach sie mit Hans Ludwig Held, dem Direktor der Münchener Stadtbibliothek, der die Meinung von Hofmann teilte, dass ein Dekret notwendig sei. Des Weiteren traf sie sich mit Ludwig Heinrich Heydenreich, dem Leiter des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München. Dieser versprach Arendt einen ähnlichen Appell, wie ihn Hofmann für die Bibliotheken formuliert hatte, für die Museen vorzubereiten. Heydenreich riet ihr auch, sich bei Präsident Heuss für ein föderales Gesetz stark zu machen. Arendt glaubte an den guten Willen dieser Beamten (das geht klar aus ihren Berichten hervor). Dass sie Blücher leicht genervt und gleichzeitig auch etwas amüsiert mitteilte, sie sei nicht nach Deutschland gekommen, um die „deutsche Gesetzgebung“ zu ändern, hat also einen ganz konkreten Hintergrund.
Und sie traf sich mit Philip Auerbach, dem Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern und Kommissarischen Präsidenten des Landesentschädigungsamtes, um mit ihm darüber zu sprechen, was von Seiten der jüdischen Gemeinden in Deutschland ansteht. Im Endeffekt lief deren Absicht darauf hinaus, die Arbeit der Nachfolgeorganisationen in USA und Israel zu unterlaufen. Sie hatten eine andere – von ihnen aus – verständliche Auffassung davon, was mit dem jüdischen Kulturgut geschehen sollte. Sie verstanden sich nicht als sogenannte Geistergemeinden, sie wollten sich von den internationalen jüdischen Organisationen ihre Existenz in Deutschland nicht streitig machen lassen. Es ging also um mehr als die Rückgewinnung von Eigentum. Es ging um die Selbstbehauptung, es ging um jüdische Identität, um die Zukunft jüdischer Existenz in Deutschland und Europa insgesamt. Der Jüdische Weltkongress hatte im Sommer 1948, etwa 18 Monate vor Arendts Deutschlandbesuch, beschlossen, dass jüdisches Leben in Deutschland so schnell wie möglich abgewickelt werden sollte. Arendt in ihrer Funktion als Direktorin der „Jewish Cultural Reconstruction“, die auch Teil der Organisationsstruktur des „World Jewish Congress“ war, stand hinter dieser Entscheidung. Auch durch ihre theoretischen Arbeiten war sie davon überzeugt, dass die Juden (insbesondere nach dem Holocaust, aber auch schon davor) ein politisches Kollektiv jenseits von Staatsangehörigkeit und Territorialität bildeten, obwohl das klassische Völkerrecht keine solchen kollektiven Ansprüche kannte. Die „Jewish Cultural Reconstruction“ stellte in dieser Hinsicht einen Durchbruch dar. Die amerikanisch jüdischen Organisationen sahen insbesondere nach dem Krieg die Juden in der Welt als eine Einheit, die durch sie vertreten wurde. Auf der anderen Seite versuchten Juden in Deutschland, wieder einen Status als nationalstaatlich anerkannte Juden zu erreichen. In Kultur und Kulturbesitz materialisierte sich dieses Dilemma, das bis heute nicht gelöst wurde. Klar ist, dass Arendt als Emissärin des internationalen Judentums in Deutschland auftrat. Ihre Verhandlungen mit Auerbach rührten daher auch an innerjüdische Konflikte. Auerbach arrangierte das Treffen zwischen Sattler und Arendt, die sich dann wohl im Dezember 1949 zum ersten Mal trafen. Sattler riet ihr, ein Memorandum an Hundhammer zu schreiben. Am 18. Januar schickte sie einen Brief an den Minister in seiner Eigenschaft als Vorsitzenden des Präsidiums der Ständigen Konferenz der Kultusminister:
„Sehr geehrter Herr Minister Dr. Hundhammer,
ich schreibe Ihnen auf Veranlassung von Herrn Staatssekretär Dr. Sattler, mit dem ich vor einigen Wochen in München über die großen Schwierigkeiten sprach, die sich aus der Rückerstattung ehemalig beschlagnahmten oder zwangsverkauften jüdisch kulturellen Eigentums ergeben haben. Dr. Sattler sagte mir, dass Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des Präsidiums der Ständigen Konferenz der Kultusminister sicher daran interessiert sein werden, uns zu helfen, die jüdischen Kulturschätze in Deutschland zu retten, so weit es noch möglich ist. Ich erlaube mir daher, Ihnen beiliegendes Memorandum zu überreichen, das versucht, die Schwierigkeiten des Problems und den augenblicklichen Stand der Angelegenheit darzustellen. Maßgebende Persönlichkeiten in Deutschland, vor allem aus dem Bibliothekswesen, haben uns mehrfach geraten, auf das Zustandekommen einer Verordnung hinzuarbeiten, welche die Bibliotheken, Archive und Museen veranlassen würde, in ihren Beständen nach jüdischem kulturellen Eigentum zu fahnden und das so entdeckte Material anzumelden. Wir wären Ihnen daher außerordentlich zum Dank verpflichtet, wenn Sie dieser Angelegenheit Ihre Aufmerksamkeit widmen und eventuell unsere Vorschläge auf der nächsten Sitzung der Kultusminister vortragen und unterstützen würden.
Mit dem Ausdruck der vorzüglichen Hochachtung
ihre sehr ergebene [....]
Danach erklärt Arendt nochmals, was es mit der „Jewish Cultural Reconstruction“ auf sich hat. Sie erinnert Hundhammer daran, dass am 15. Februar 1949 die amerikanische Militärregierung die Organisation zum Treuhänder für jüdisch kulturelles Eigentum ernannt hatte. Kopien schickte sie an alle in der amerikanischen Besatzungszone befindliche Kultusministerien. Hundhammer hat ihr nie geantwortet. Besorgt berichtet sie Hundhammer gleichzeitig von ihren Verhandlungen mit dem Direktor der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek. Etwa 100.000 Bücher nicht-jüdischen Inhalts, die aus ehemaligem jüdischen Besitz stammten, seien dem hessischen Kultusministerium übergeben worden, um sie an deutsche Bibliotheken zu verteilen.
Am 22. Januar nahm Arendt an einem Treffen des Bayerischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in München teil. Sie schrieb sehr zurückhaltend von einer Übereinkunft, die sie anscheinend vor allem mit Philip Auerbach aushandelte. Nach dieser Übereinkunft werden die Jüdischen Gemeinden die Arbeit der „Jewish Cultural Reconstruction“ nicht behindern – solange es um die Rettung von wissenschaftlichem Material geht, für das die Gemeinden keine Verwendung haben. Die Gemeinden werden die „Jewish Cultural Reconstruction“ davon informieren, was die eigenen kulturellen Bedürfnisse sind. Die Rabbiner werden dafür verantwortlich sein, welche Gemeinden welche Bücher von der „Jewish Cultural Reconstruction“ erhalten. Die Gemeinden werden alles nicht benötigte kulturelle Material an die „Jewish Cultural Reconstruction“ übergeben. Arendt war sehr skeptisch, ob diese Übereinkunft eingehalten werden wird, wollte sich in ihrem Bericht aber nicht näher dazu äußern. Das Verhältnis der amerikanisch-jüdischen Organisationen zu den im Entstehen begriffenen deutschen Gemeinden beruhte auf gegenseitigem Misstrauen. Die „Jewish Cultural Reconstruction“ verstand sich als Vertreterin des gesamten jüdischen Kollektivs. Der Bayerische Landesverband der jüdischen Gemeinden sah das anders. Das erblose Eigentum sollte den ehemalig Verfolgten an den Orten, an denen sie jetzt lebten, zur Verfügung stehen. Der Verband ging davon aus, dass es legitim sei, dass Juden wieder in Deutschland leben.
Arendt glaubte nicht an diese Legitimität. Sie war inzwischen wohl zu einer amerikanischen Jüdin geworden, was in ihren Begleitbriefen zu den Feldberichten an Salo Baron ziemlich klar zum Ausdruck kommt. Als amerikanische Jüdin (noch ohne amerikanische Staatsbürgerschaft) war für sie das jüdische Kapitel in Deutschland abgeschlossen. In ihren Berichten gibt Arendt auch ihre ständige Angst vor der Renazifizierung Deutschlands zu erkennen:
Scholem erwähnte an gleicher Stelle noch, dass Restitutionsverhandlungen mit der Bayerischen Staatsregierung im Gange seien. Dabei handelte es sich nicht um geraubten jüdischen Besitz. Scholem wollte als symbolische Geste die Aushändigung einiger bedeutsamer hebräischer Manuskripte aus dem bayerischen Staatsbesitz. Insbesondere ginge es dabei um ein vollständiges Talmudmanuskript, Codex 95 der hebräischen Sammlung der Münchener Staatsbibliothek. Er informierte Arendt über diese Verhandlungen, obwohl er sich natürlich im klaren darüber war, dass die „Jewish Cultural Reconstruction“ sich hierum nicht kümmern konnte, da das Eigentumsrecht der deutschen Bibliotheken an den Manuskripten feststand. Aus diesen Verhandlungen ist wohl nichts geworden, der Codex 95 befindet sich immer noch im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek. Arendt antwortete am 5. Februar 1950 wieder aus Basel:
„Lieber Scholem, …Nun zu meinen Unternehmungen. Ich tue alles was mir nötig und möglich erscheint ohne große Erwartungen. Misstrauen ist durchaus am Platze (God knows), aber es gibt auch ein Misstrauen, dass so blind sein kann, wie blindes Vertrauen….Anders ausgedrückt, man kann sich auf den Standpunkt stellen, alle lügen, aller verbergen, keiner ist guten Willens -- aber dann ist man auch am Ende nicht nur des Gesprächs, sondern auch aller möglichen Aktionen. Konkret ist zu der Sache zu sagen, dass an der Spitze der öffentlichen Institutionen in Deutschland oft vorzügliche Menschen stehen (Gerhard, gehen Sie nicht in die Luft. Das ist einfach die Wahrheit), dass ich aber in jedem Büro schon die Leute sehen kann und sie beim Namen nennen kann, die alles versuchen werden zu sabotieren…“
Sie versuchte wohl, Scholem zu beruhigen, aber sie wusste eigentlich schon, dass die Zeit, in Deutschland etwas zu erreichen, abgelaufen war. Am 27. Juli 1950 kam dann die Antwort von Sattler aus der hervorging, dass das Dekret endgültig vom Tisch war:
„Sehr geehrte Frau Arendt!
... Das Kultusministerium hat sich mit der sie interessierenden Frage nicht im einzelnen befasst. Für die Behandlung sind vielmehr die hierfür auf Landesebene eingesetzten Rückerstattungsdienststellen zuständig. In Bayern besteht, wie Sie wissen, das Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Man ist dort der Meinung, dass die Erfassung am besten durch die Kultusgemeinden in Bayern erfolgen würde, die nach der mir gemachten Darstellung sowohl von der Landesregierung wie vom Staatskommissar als Rechtsnachfolger anerkannt werden…
Mit der Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung
Sattler“
Es schien, als ob die Bayerische Landesregierung die Position der neuen Jüdischen Gemeinden gegen die amerikanisch-jüdischen Positionen fürs erste akzeptierte. Das wird durch einen weiteren Feldbericht bestätigt, den Meir Ben-Horin nach Arendts Heimreise in die USA im September 1950 verfasste. Dort bestätigten sich Scholems (und auch Arendts) Befürchtungen. Das Bayerische Kultusministerium informierte die „Jewish Cultural Reconstruction“ im August 1950, dass es keine Verordnung geben würde und dass alle Resitutionsangelegenheiten nun in den Zuständigkeitsbereich des Landesamtes für Wiedergutmachung fielen. Ben-Horin erwähnte auch, dass Philip Auerbach die Arbeit der „Jewish Cultural Reconstruction“ zu behindern versuchte. Trotz des Fehlschlags in Bayern gelang es der „Jewish Cultural Reconstruction“ bis 1952, 427.000 Bücher aus Deutschland herauszubringen: 191.423 nach Israel und 160.886 in die USA, der Rest ging in die verschiedensten Länder der westlichen Welt. Die Mitglieder der „Jewish Cultural Reconstruction“ waren davon überzeugt, dass Europa nie wieder ein Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur sein werde. Arendt und Scholem waren sich durch ihre gemeinsame Arbeit bei der „Jewish Cultural Reconstruction“ wohl näher, als man glauben mag. Vielleicht wurden ihre Meinungsverschiedenheiten über den Zionismus und den Eichmannprozess bewusst als Stellvertreterkonflikte aufgebauscht. Beide standen für die neue jüdische Identität und Existenz nach dem Holocaust außerhalb Europas. Deutschland, ja Europa, war für sie keine Option mehr. Jüdisches Leben und Wirken verlagerte sich nach Israel und in die Vereinigten Staaten. Beide hatten neue Modelle vor Augen, wie jüdische Tradition in der Moderne vermittelt werden sollte und wie man ethnische Kultur in politischen Aktivismus überträgt. Ihre Auseinandersetzungen gingen von einer tiefen Übereinstimmung, der Wahrnehmung des Scheiterns der jüdischen Assimilation, aus. Das heißt auch, dass für beide jüdisches Leben in Deutschland und in Europa nach 1945 nicht mehr tragbar war. Beide versuchten, den Raum zu erkunden, wo Juden als Juden öffentlich und kulturell in einem größeren politischen Umfeld handeln könnten. Die „Jewish Cultural Reconstruction“ hat ihnen ein Betätigungsfeld geboten, wo sie ihre theoretischen Ansichten in die Praxis umsetzen konnten.
Anmerkungen
1 Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968, hrsg. von Lotte Köhler, München-Zürich: Piper, 1996, S. 174.
2 Die Rekonstruktion von Arendts Besuch in München beruht auf nicht veröffentlichten Akten der „Jewish Cultural Reconstruction“ und unveröffentlichten Briefen, die Arendt und Scholem in den Jahren 1949 bis 1951 wechselten und in denen es fast ausschließlich um die Geschäfte der „Jewish Cultural Reconstruction“ geht. – Nach Mitteilung von Marie Luise Knott werden diese Briefe mitsamt den Field Reports von Hannah Arendt im Rahmen der von ihr herausgegebenen Hannah Arendt–Gershom Scholem Briefedition 2009 im Suhrkamp Verlag erscheinen.
3 Ausführlicher zur Arbeit der „Jewish Cultural Reconstruction“ siehe mein Buch Gedächtnisraum Europa: Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus – Eine jüdische Perspektive (transcript Verlag, Bielefeld, 2008).
4Arendt-Blücher, Briefe, S. 175.
5 Arendt-Blücher, Briefe, S. 185.
6 Nachrichten für wissenschaftliche Bibliotheken, 3. Jg., Heft 4, April 1950, S. 62.
7 Dieser Brief mit dem beigelegten Memorandum befindet sich unter den Salo Baron Papers in der Manuscript Division der Stanford University.
8 Der Katalog wurde unter dem genannten Titel zuerst als Supplement zu Jewish Social Studies, VIII, 1946, veröffentlicht. In den beiden folgenden Jahren erschienen zwei weitere Listen: „Tentative List of Jewish Periodicals in Axis-Occupied Countries“, Jewish Social Studies, IX, 1947, und „Addenda and Corrigenda to Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries“, Jewish Social Studies, X, 1948. Für die Fragebögen siehe die Salo Baron Papers, Stanford University.
9 Darüber hinaus enthält diese Zusammenstellung eine Aufstellung aller nationalsozialistischen Institutionen, die sogenannte Judenforschung betrieben haben und zu diesem Zwecke Bücher aus jüdischen Beständen beschlagnahmten. Das Hauptaugenmerk liegt also auf beweglichen Gegenständen wie beispielsweise Büchern, Dokumenten oder Kulturgegenständen.
10 Siehe oben den Wortlaut der Veröffentlichung.
11 Hannah Arendt to Salo Baron, Basel, December 30th, 1949, Salo Baron Papers, Stanford University.
12 Dieser Brief (wie die anderen hier herangezogenen zwischen Scholem und Arendt gewechselten Briefe) befindet sich im Archiv der “Jewish National and University Library” in Jerusalem (Arc. 4 o 793 JCR).