Ausgabe 1, Band 4 – Mai 2008
Arendt und das dichterische Denken
Bernardo Correa
I.
In dem eindringlichen Essay, der Walter Benjamin gewidmet war, äußert Hannah Arendt, „dass er dichterisch dachte, aber […] weder ein Dichter noch ein Philosoph“ war (MZ 187). Eine überraschende Behauptung, denn offensichtlich besteht der charakteristische Zug eines Autors – im Fall, dass die Aussage zutreffend ist – in einem zweifachen Mangel: er sei kein Philosoph, obwohl er ein Denker ist; und kein Dichter, obwohl seine Art des Denkens dichterisch ist. Die Überraschung, die dieses Urteil hervorruft, verdient eine nähere Betrachtung. In der Tat; was ist für Hannah Arendt das dichterische Denken? Ist es ein Modus des Denkens – sei es Mangel oder Privileg -, oder nur ein Kennzeichen für Walter Benjamins Denkungsart? Ist es Teil des Sensus Communis oder eine Gabe, eine, wenigen Eingeweihten vorbehaltene Disposition? Es lässt sich vermuten, dass uns Hannah Arendt, indem sie über Benjamin spricht, einige Schlüssel zu ihrer eigenen Denkweise bereitstellt. Es wird uns hier weniger interessieren, festzustellen, ob ihre Würdigung Benjamins zutrifft; unser Thema ist ein anderes: wir wollen versuchen, den Sinn und die Reichweite dessen zu ergründen, was sie mit dem Ausdruck „dichterisches Denken“ beschreiben möchte.
„Ohne Gleichartigkeit“ schreibt Hannah Arendt in ‚Vita activa oder Vom tätigen Leben’ zu Beginn des Kapitels über das Handeln, „gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, […] und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert wird.“ - „Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war, oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.“ (VA 164) Es lässt sich ohne Übertreibung behaupten, dass sich in diesen wenigen Zeilen die zentralen Voraussetzungen von Hannah Arendts Denkungsart in bewundernswerter Weise erkennen lassen. Die Existenz der Menschen ist paradox, weil sie, insofern sie im Besitz der Sprache sind und sich mittels ihrer Handlungen in die Zukunft entwerfen wollen, zugleich Gleiche und Unterschiedene sein müssen. Eine radikale, absolute Verschiedenheit würde für jeden von ihnen die totale Verlassenheit, d.h. die endgültige Nichtverständigung implizieren. Sie wären so verschieden, dass sie nicht zu gegenseitiger Erkenntnis finden könnten. Aber die Gleichartigkeit, an die Hannah Arendt denkt, ist kein Aufgehen in einer uniformen Masse. Daher ihre Betonung der Verschiedenheit. Wenn wir schon immer völlig gleich gewesen wären, als wären wir aus einem gleichen unabänderlichen Abdruck geformt, dann würden wir Menschen uns ohne das Sprechen und Handeln verständigen können: Gesten und Laute würden ausreichen, um unseren Bedürfnisse zu erfüllen, die „allen gleich“ und „immer identisch“ wären.
Man sieht, wie bei Arendt der klassische Entwurf aus Aristoteles’ Politik nachhallt. Erinnern wir uns kurz daran, dass Aristoteles im Buch I die Verbindung des Menschen zum Wort, zum ‚logos’, hervorhebt um zu begründen, warum der Mensch ein soziales Lebewesen ist. Der Mensch, sagt er, ist sozial und nicht nur Herdentier, wie die anderen Tiere, weil er „das einzige Lebewesen [ist], das Sprache besitzt“ (Aristoteles I, 1253a8). Was nun allein die Sprache im Unterschied zur Stimme und zu den Zeichen hat, mit denen die Tiere Schmerz oder Lust ausdrücken, ist, dass sie dazu dient, „das Nützliche und das Schädliche mitzuteilen, und so auch das Gerechte und das Ungerechte“ (Ebd. 1253a13). Und, so schlussfolgert Aristoteles: “Dies ist nämlich im Gegensatz zu den anderen Lebewesen dem Menschen eigentümlich, dass er allein die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und so weiter besitzt. Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft das Haus und den Staat.“ (Ebd. 1253a15). So kann man feststellen, dass der politische Sinn des ‚logos’ die Existenz der Pluralität und der Verschiedenheit sowie die Notwendigkeit ihrer Artikulation voraussetzt. Wenn es notwendig ist, in gemeinschaftlicher Teilnahme das Gute und das Schlechte, das Gerechte und das Ungerechte zu bestimmen, dann deshalb, weil diese Werte, die das „Haus und den Staat“, die ‚Polis’, ausmachen, nicht von Anfang an einen einheitlichen Sinn haben, nicht von vornherein definiert sind; mit einem Wort, sie müssen durch Gleichheit und Verschiedenheit erst konstruiert werden.
Dass die Menschen der Sprache bedürfen, weil sie beides, gleichartig und verschieden sind, bedeutet auch, dass der Mensch das einzige Tier ist, das zweimal geboren wird: das erste Mal mit der Entbindung als biologisches Wesen, das zweite Mal mit seiner Erscheinung in der Welt der Menschen. Diese „Einschaltung“ (VA 165) sei nur, sagt Arendt, „sprechend und handelnd“ (VA 165) möglich. In diesem Punkt wird der aristotelische Ansatz, der oben erwähnt wurde, eher verständlich: wenn wir nur gleichartig wären und unser Leben in allem vorherbestimmt wäre, bräuchten wir die Sprache und das Handeln nicht, um uns gegenseitig zu offenbaren, und würden uns die wiederholenden und zirkulären Funktionen der Reproduktion als ein Programm, das in uns festgelegt wäre, genügen. Stattdessen wird mit jedem Menschen ein neuer Anfang gemacht, „schlechterdings unerwartet und unerrechenbar“ (VA 166), der uns inmitten eines menschlichen Bezugsgewebes sichtbar werden lässt, das uns vorausgeht. Wir müssen, erinnert uns Arendt, handeln, damit unser Leben die einfache reproduktive oder produktive Aktivität übersteigt, um uns zu unterscheiden, da wir ja nicht mit einem Mal auf der Stirn geboren werden, das anzeigt, wer wir sind. Um ein „Jemand im Miteinander“ (VA 169) werden zu können, auf dass sein Leben eine Geschichte werde, die einen Anfang und ein Ende hat, muss der Mensch „gleichsam auf die Bühne der Welt“ (VA 169) treten, und seine Taten bedürfen der Begleitung von Reden, um sich nicht nur in ihrer „rohen physischen Erscheinung“ (HC 179) zu ereignen, sondern weil das gesprochene „Wort vielmehr den Täter identifiziert und verkündet, dass er es ist, der handelt, nämlich jemand, der sich auf andere Taten und Entschlüsse berufen kann und sagen, was er weiterhin zu tun beabsichtigt“ (VA 168).
Die Condition Humaine der Natalität fügt uns in eine Welt von Bedeutungszusammenhängen ein und - um exakter zu sein: sie macht aus dem Leben der Menschen eine dauernde Suche nach Sinn. Beim In-Erscheinung-Treten in der Welt, beim Eintritt in das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten ist es der Austausch der Handlungen und Worte mit den Anderen im Plural, mit dem wir uns als Menschen offenbaren. Handeln und Freiheit sind nach Arendt zwei Seiten derselben Medaille, weil beide verbürgen, dass unser Leben nicht nur die Verwirklichung eines vorherbestimmten Wesens ist, sondern dass im Gegenteil wir es sind, die wir das tun, d.h., es ist der Ausdruck unseres Vermögens, biologische Prozesse zu unterbrechen und etwas Neues anzufangen, sodass „unserem Tun Sinn aufgeht“ (vgl. VA 141) in und für die Welt. Da unsere Handlungen nicht von vornherein festgeschrieben sind, gezeichnet. Dieselbe Flüchtigkeit zieht unsere Worte in Mitleidenschaft. Die Unmöglichkeit, den Sinn unserer Handlungen völlig vorauszusehen und zu kontrollieren, ist nach Arendt Quelle vieler Frustrationen in der Verständigung und im Verhältnis zwischen den Menschen, doch gleichzeitig erhält das Handeln von dort seine ganz eigene Kraft.
Wir erscheinen also in der Welt, einer Welt, der die Menschen mit ihren Werken Dauer verliehen haben, und dort hat unser Erscheinen dank unserer Handlungen nicht nur eine physische Präsenz, sondern es wird ein „Wer“ der Person enthüllt (vgl. VA 170). Doch, wie schon gezeigt wurde, bedeutet das nicht, dass uns eine zu erfüllende Mission zugefallen wäre, oder dass die Welt schon für unsere Impulse und Fragen hergerichtet wäre. Im Gegenteil: wir sind Fremde, die soeben angekommen sind, und die Welt ist nicht unser gefälliger Spiegel. Das ist der Grund, warum nach Arendt „Verstehen […] mit der Geburt“ beginnt und „mit dem Tod“ endet“(VZ 110). So ist das „Ergebnis des Verstehens Sinn“ (VZ 111) und der Zweck des Verstehens die Erzeugung von Sinn, den wir, wie Arendt sagt, „ im bloßen Lebensprozess insofern erzeugen, als wir uns mit dem, was wir tun und erleiden, zu versöhnen suchen“ (Ebd.). Die Notwendigkeit des Verstehens ruht in der Tatsache, dass „jede einzelne Person […] sich mit jener Welt versöhnen [muss], in die sie als Fremder hineingeboren wurde und wo sie im Maße ihrer klar bestimmbaren Einmaligkeit immer ein Fremder bleiben wird“ (VZ 110). Deshalb gibt es für den Handelnden weder einen teleologischen Sinn zu erfüllen noch einen Endzweck zu erkennen. Das will nicht heißen, dass wir uns nur unter vom Zufall getriebenen Schatten bewegten, ohne Möglichkeit, irgendwelche Wahrheiten festzustellen. Eher unterstreicht diese Tatsache, dass das menschliche Leben sich nicht nur in einem physischen, sondern insbesondere in einem zweiten Medium entfaltet, das nach Arendt das „Gewebe“ der menschlichen Bezüge ausmacht, d.h. das ‚Medium’, das Zwischen, in dem wir Handelnde und Zuschauer sind und uns zu Einzigartigen in der Pluralität machen.
Was ich hierbei unterstreichen möchte, ist, dass das Reden, welches das Handeln begleitet, in der Umgangssprache stattfindet, in der Alltagssprache, mit der wir seit der Kindheit aufwuchsen. Einer der Gründe, warum Hannah Arendt auf der Unterscheidung zwischen Verstehen und Erkennen besteht, ist genau der, dass die Erkenntnis sich auf eine nicht-natürliche Sprache zu stützen pflegt, weil sie fast immer den Kontakt mit der Lebenswelt entbehrt. Über die Existenz in der Pluralität hinaus, in der wir zugleich Handelnde und Zuschauer sind, ist unser Leben auch durch den Drang zu Verstehen bestimmt, den die Tatsache des In der Welt-Erschienen-Seins in uns erweckt.
II.
„Alles Denken fängt mit der Alltagssprache an und entfernt sich von ihr“ schrieb Hannah Arendt im Heft XXVII ihres Denktagebuchs im April 1970 (772). Nach dieser Bemerkung wäre die Alltagssprache nur ein Anfang, ein provisorischer Ausgangspunkt, aber nicht ihr permanenter Aufenthalt. Ein Stück weiter skizziert sie in derselben Bemerkung die Antwort, warum es notwendig sei, sich von der Alltagssprache zu entfernen. Sie sagt: „Das Bedürfnis zu Denken entsteht immer dann, wenn wir das Empfinden haben, dass Worte in ihrer gewöhnlichen Bedeutung [die Sache] eher verdunkeln als erhellen. Der Prozess der Klärung, der im Denkprozess vor sich geht, erfolgt durch Unterscheidung“ (Ebd.). Während uns die Alltagssprache die Türen zum Sinnverstehen öffnet, verwischt sie zugleich die Spuren und kann uns auf Abwege führen. Deshalb kann es notwendig sein, sich, während man sich in ihr bewegt, von ihr zu distanzieren. Arendt spricht von Entfernung und nicht von Bruch, denn die Unterscheidungen, die der Denkprozess in Gang setzt, werden quer durch dieselbe Alltagssprache hindurch getan. Dieses Verfahren ist natürlich nicht neu: In den sokratischen Dialogen entfesselt, wie wir wissen, die Frage, die Staunen ausdrückt und es auch im Gesprächspartner zu wecken sucht, ein subtiles Spiel der Unterscheidungen, deren größtmögliche Wirkung, wenn sie sich einstellt, darin besteht, den Dialogpartnern zu erlauben, eine Distanz zum üblichen und ahnungslosen Gebrauch der Worten einzunehmen.
Die Alltagssprache eröffnet in den Augen Arendts unzweifelhafte Vorteile: mit ihr richten wir uns in einer Tradition ein, sie erlaubt es uns, die Erinnerung unserer historischen und gesellschaftlichen Identität zu wahren; sie erlaubt uns, Erfahrungen (mit-) zu teilen; sie ist die Basis des Gemeinsinns, des „politischen“ Sinns „par excellence“ (VZ 121). Doch zugleich weiß Arendt, dass die Alltagssprache verkümmert, versteinert, sich zersetzt. Der gesunde Menschenverstand (von dem Kant sagte, dass ihn zu haben weder ein Verdienst noch eine Privileg sei) ist zugleich eine Quelle von Vorurteilen. Die Sokrates zugeschriebenen platonischen Metaphern, die Arendt zu verschiedenen Gelegenheiten analysiert, spielen auf diese Abstumpfung an, die eine passive Identifikation mit dem gesunden Menschenverstand hervorruft, von dem uns nur der Stachel der Stechmücke wecken kann. Damit die Winde des Denkens aufkommen können, ist es notwendig, die Fenster zu öffnen. Wie wir wissen, erlaubt es die repräsentative Figur Eichmanns Arendt zu beweisen, dass die fertigen und leeren Sätze, die Gemeinplätze und Klischees unsere Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, blockieren und unseren moralischen Sinn zerstören können. Trotzdem bedeutet dies nicht, dass Arendt das Denken von der Notwendigkeit abhängig machte, den Bruch mit der Alltagssprache zu brechen. Für sie ist die volkstümliche Sprache der „Ausdruck eines Vorverständnisses“, und in diesem Sinn „beginnt die Umgangssprache also den Prozess des wahren Verstehens. Ihre Entdeckung muss immer der Inhalt des wahren Verstehens bleiben, wenn es sich nicht – eine stets gegebene Gefahr - in den Wolken der reinen Spekulation verlieren will“ (VZ 115), einer Gefahr, die immer gegenwärtig ist.
So ist für Arendt die populäre Sprache kein totes Gewicht, das den Flug des Denkens verhindert, sondern im Gegenteil der begrüßenswerte Ballast, der verhindert, dass sich das Denken „in den Wolken der reinen Spekulation“ verliert, das für sie eindeutig als ständige Gefahr präsent ist. Es geht dabei also darum, einen Bezug zur Erde aufrechtzuerhalten, ohne sich an ihn ketten zu lassen. Und dieser Bezug der Erde garantiert nicht mehr als eine lebendigen Bezug zur eigenen Sprache. Das ist es, was sie Günter Gaus im Fernsehinterview sagte: „Geblieben ist die Sprache“ (IWV 58) und präzisierte: „Ich schreibe in Englisch, aber ich habe die Distanz nie verloren. Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen Muttersprache und anderen Sprachen. Bei mir kann man das furchtbar einfach sagen: Im Deutschen kenne ich eine ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf - in the back of my mind das ist natürlich nie wieder zu erreichen. […] Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, das geblieben ist und was ich auch immer bewusst gehalten habe“ (IWV 58f.).
Wir erfahren (und ertragen) den Zusammenstoß mit der Wirklichkeit dank der Umgangssprache. Doch wie wir gezeigt haben, ist dieses Medium der Orientierung nicht absolut vertrauenswürdig. Trotzdem können wir nicht damit brechen, weil es das ist, was uns der Existenz der, wie Arendt sagt, „Gemeinschaft und der Ebenbürtigkeit der Verschiedenen“ versichert, und das bedeutet, der Existenz des Politischen. Mit anderen Worten, das Zusammenleben, das ‚inter homines esse’, das Gemeinsame, die Pluralität, sind dank der Alltagssprache gegeben. Das ist der Hauptgrund, warum Arendt nicht müde wurde, die zunehmende Tendenz zu kritisieren, den gesunden Menschenverstand durch wissenschaftliche und technologische Verfahren zu ersetzen. Anstatt ihn als ein Zeichen für Fortschritt und Reife zu sehen, interpretierte sie ihn als ein unruhiges Signal „unserer Unfähigkeit Sinn herzustellen“. „Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist das Wachstum von Sinnlosigkeit eine Begleiterscheinung des Verlustes an gesundem Menschenverstand gewesen. Dies hat sich in vielerlei Hinsicht einfach daran gezeigt, dass die Dummheit zugenommen hat.“(VZ 117). Hier liegt für sie die beunruhigende Herausforderung des totalitären Phänomens: es kann nicht vom gesunden Menschenverstand aus verstanden werden, und auch nicht aus einer vermeintlich wissenschaftlichen Position.
Um den Glauben daran zu kritisieren, dass es von Vorteil wäre, den gesunden Menschenverstand durch die Wissenschaft oder die Technik zu ersetzen, nimmt Arendt die Logik als hervorragendes Beispiel und widmet sich der Aufgabe aufzuzeigen, wie sie bei ihrem Vorgehen von den anderen Menschen und der Erfahrung absehen kann, was dazu führt, dass sie sich wirksam zur Unterstützung einer totalitären Praxis anbieten kann. In ‚Verstehen und Politik’ beschreibt Arendt: „Gesunder Menschenverstand und Logik unterscheiden sich, politisch, vor allem darin, dass der gesunde Menschenverstand, der Common Sense, eine gemeinsame Welt, in die alle hineinpassen voraussetzt – eine Welt, in der wir alle leben können, weil wir einen Sinn besitzen, der alle im Kern besonderen Sinnesdaten steuert und denen der Anderen anpasst – wohingegen die Logik und alle Selbstevidenz, von der das logische Denken ausgeht, für sich eine Gültigkeit beanspruchen können, welche von der Welt und dem Vorhandensein anderer Menschen völlig unabhängig ist. Es ist oft festgestellt worden, dass die Geltung der Behauptung, 2 und 2 sei gleich 4, unabhängig vom Menschsein sei, dass heißt für Gott und Mensch gleich gültig.“ (VZ 121) Arendt nennt diese Unterscheidung „politisch“ weil das, was in ihr im Spiel ist, kein akademischer Disput ist, sondern dieselbe Existenz des Gemeinsinns, das heißt, die Fähigkeit, zum Handeln, und deshalb zur Politik. Der Gemeinsinn existiert nur dort, wo es einen ständigen Austausch von Meinungen gibt (Arendt sagt von der griechischen ‚Polis’, dass sie eine unermüdlich debattierende Gesellschaft gewesen sei), Meinungen, die gleichzeitig die Existenz der Pluralität voraussetzen und benötigen. Was hier zählt, ist weniger die inneren Kohärenz eines Arguments als die Tatsache, dass es der Konfrontation der verschiedenen Gesichtspunkte ausgesetzt wird Das logische Argument gründet sich also ausschließlich auf seiner inneren Geltung und kann deshalb zur „rücksichtslosen Ausschaltung aller differierenden Prämissen, d.h. Erfahrungen“ (DT 196) fortschreiten. Dem lässt sich hinzufügen, dass von der „als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit […] alles Weitere deduziert“ (EU 719) wird, deren „Gedankenstränge“ wie Arendt sagt, als „hauptsächliches politisches Kennzeichen darin besteht, dass sie immer einen Überzeugungszwang in sich tragen“ (VZ 121). Daher können sie perfekt der totalitären Praxis und dem Ersatz des Gemeinsinnes durch die Logik in die Hände spielen. Arendt fasst dies in die folgenden Worte: „Theorie und Praxis in aller totalitären und d.h. eigentlich nur wesentlich ideologischen Politik: Der Schritt von der Theorie in die Praxis ist genau der Schritt von A- zum B-Sagen. Die Logik durchherrscht nicht nur die Praxis selbst und treibt sie in die „logischen“ Extreme, sondern sie ist überhaupt die einzige Möglichkeit, aus dem Theoretischen in die Praxis überzutreten. Anders ausgedrückt: Die Deduktion von der Prämisse, als Deduzieren, stiftet Bewegung als einen voraussehbaren, von einer (beliebigen) Prämisse geleiteten Prozess.“ (DT 204)
Der Triumph der Logik als Form und Modell des Gedankens ist nach Arendt nur möglich auf Kosten der Zerstörung des „gemeinsamen Erscheinungsraums zwischen den Menschen“. Diese Zerstörung impliziert den Verlust des Kontaktes mit der Alltagssprache, die der Träger unserer gemeinsamen Erfahrungen ist, das heißt, dem gesunden Menschenverstand, „jener Teil unserer geistigen Welt, jenes Stück ererbter Weisheit, das alle Menschen in den existierenden Zivilisationen gemeinsam haben“ (VZ 120). Das Ergebnis dessen ist der Sinnverlust und das Fehlen von Bedeutung. Aber das geschieht nicht nur innerhalb der Domäne der Logik. Arendt hat auch gezeigt, dass „das in denn letzten Jahrzehnten ständig wachsende Ansehen der wissenschaftsgläubigen ‚brain trusters’, von denen die Regierungen sich beraten lassen, höchst beunruhigend“ sei: “Gegen ihre Kaltblütigkeit, ‚das Undenkbare zu denken’, wäre kaum etwas einzuwenden, wenn man nur sicher sein könnte, dass sie überhaupt denken. Anstatt sich auf ein so altmodisches, von Computern nicht zu übernehmendes Geschäft wie das Denken einzulassen, rechnen sie mit Hilfe ihrer Maschinen die Konsequenzen gewisser hypothetisch angenommener Konstellationen aus […] Der logische Fehler in diesen hypothetischen Konstruktionen möglicher zukünftiger Ereignisse ist immer der gleiche: Was zuerst – je nach dem intellektuellen Niveau mit oder ohne Berücksichtigung der implizit gegebenen Alternativen – als Hypothese erscheint, wird sehr schnell, oft nach wenigen Abschnitten, zur ‚Tatsache’, einem Datum, das dann eine ganze Serie ähnlicher Data gebiert, deren hypothetischer Charakter vergessen ist“ (MG 10 f.). Ein Mal mehr wiederholt sich die Diagnose: Kontaktverlust mit der Realität, Bruch mit dem gesunden Menschenverstand, Blindheit gegenüber den Ereignissen, gegenüber denen man so handelt, dass sie konsistent in eine Theorie passen, die glaubt, sie zu „bedenken“. Und Arendt folgert: „gefährlich werden“ [diese Kunststücke] „erst, wenn sie als in sich schlüssige Theorien auftreten, mit deren Hilfe man angeblich wissen kann, was wirklich war, ist und sein wird. Dann tritt jene hypnotische Wirkung ein, derzufolge der von den Theoretikern ohnehin so verachtete gesunde Menschenverstand auch ganz untheoretisch veranlagte Menschen verlässt und mit ihm der Gemeinsinn oder Common Sense, dem wir es verdanken, dass wir Wirklichkeit und Tatsächlichkeit wahrnehmen, verstehen und uns handelnd in ihnen orientieren können“ (MG 12).
Was sich zu zeigen beginnt, kann man nicht so verstehen, als gäbe es bei Arendt so etwas wie eine Erhöhung oder eine Mystifizierung des Gemeinsinns oder der Tatsache der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Form der Lebensweise wie der je eigenen Gemeinschaft. Was man eher sagen könnte, ist, dass für sie zwei Gefahren konstant unsere Fähigkeit des Verstehens ständig bedrohen: die des Verankert-Bleibens im gesunden Menschenverstand und der Absicht, ihn durch wissenschaftliches und technisches Wissen zu ersetzen und aufzuheben. Tatsächlich haben beide Gefahren trotz der strikten Trennungslinie, die man zwischen gewöhnlicher Erkenntnis und wissenschaftlicher Erkenntnis ziehen kann, einen unbezweifelbaren Zusammenhang, der sie einander in überraschender Weise annähert: die eine wie die andere Gefahr kann, auf die Erfahrungen der Lebenswelt angewendet, das Ereignis auslöschen. Während der gesunde Menschenverstand jede neue Erfahrung in das bereits Bekannte überträgt, das heißt, sie mit und in dem Terminus des ‚Schon Dagewesenen’ zu denken, zielt das wissenschaftliche Erkennen darauf ab, sie in eine Kausalkette einzufügen, die sie leicht herleitbar machen soll. Im Ergebnis verliert das Ereignis als dasjenige - nach Arendt -, was das Denken weckt, seine Neuheit und Einzigartigkeit und lähmt schließlich das Denken und das Handeln, statt sich in eine lebendige Erfahrung zu verwandeln, die das Denken und das Handeln der Menschen anregt. Anders gesagt wird in beiden Fällen die Fähigkeit des Staunens neutralisiert, sei es, weil die Fähigkeit der Rückkehr zur eigenen Sprache verloren geht, wie es durch den versteinerten gesunden Menschenverstand geschieht, sei es, man versucht, die Erfahrungen, die Menschen miteinander machen, durch Beziehungen zu ersetzen, die „mit wirklichen Begebenheiten nie in Berührung“ kommen, wie es oft in der Welt des Wissens geschieht.
III.
Wir wollen uns jetzt dem zuwenden, was Arendt mit dem Begriff „dichterisches Denken“ ausdrücken wollte. Wir wissen ja bereits, warum es ihrer Ansicht nach notwendig ist, sich von der Alltagssprache zu entfernen, wenn wir uns unsere Fähigkeit zu verstehen und zu staunen erhalten wollen. Wir wissen auch, welche Risiken wir sowohl vom denkerischen als auch vom politischen Standpunkt aus eingehen, wenn sich diese Entfernung in einen Bruch verwandelt, das heißt, wenn die Alltagssprache durch klischeehafte Stereotypen, logische Schlussfolgerungen oder wissenschaftliches Räsonnieren ersetzt wird. In diesem Kontext fragen wir uns, ob Arendt mit dem Ausdruck „dichterisches Denken“ eine spezielle Wesensart von Benjamin meinte, oder ob es sich für sie vielmehr um die hervorragende Art und Weise handelt, in der Alltagssprache zu sein, während man sich gleichzeitig von ihr entfernt.
Ein Leitmotiv, das Arendts Werk durchzieht, ist bekanntlich die Idee, dass wir in einer Welt leben, die dramatisch von einem Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet ist. Der Verlust der Tradition drückt sich zuallererst als Unfähigkeit zu denken aus, also als Unfähigkeit, sich über ein Phänomen klar zu werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass Arendt, während sie alle Konsequenzen aus dieser Situation einer Ohnmacht zieht, nicht weniger wachsam ist und zum Beispiel die Art und Weise kritisiert, wie die Berufshistoriker dazu neigen, die Geschichte auf eine bloße Abfolge von Ereignissen zu reduzieren. Indem sie so vorgehen, schlussfolgern die Historiker jedes Ereignis und entziehen ihm alles Neuartige, alles Besondere. Das bedeutet für Arendt letztlich eine Negation der Freiheit und des Handeln, das heißt, der Fähigkeit der Menschen, den Lauf der Dinge zu unterbrechen, Anfänge zu stiften, deren Sinn und Zweck sich nicht von seinen Anfängen aus vorhersagen und beherrschen lassen. Zweifellos müssen wir uns in ganzer Klarheit damit konfrontieren, dass einerseits die „Originalität des Totalitarismus [...] nicht deshalb schrecklich [ist], weil mit ihm eine neue ‚Idee’ in die Welt gekommen ist, sondern weil seine schieren Handlungen einen Bruch mit allen unseren Traditionen darstellen; zweifellos haben sie unsere Kategorien des politischen Denkens und unsre Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt“ (VZ 112), und andererseits - und das ist eine Untersuchung, die weit über das Phänomen des Totalitarismus Gültigkeit besitzt, dass „notre héritage n’est précédé d’aucun testament“, wie ein Aphorismus von Char lautet, den Arendt in der Einleitung von ‚Zwischen Vergangenheit und Zukunft’ kommentiert (VZ 7). Wenn das die Lage ist, in der wir uns befinden, wenn die Nostalgie ohnmächtig ist und wir in einer Unzeit leben, ohne einen Himmel, der sich über uns wölbt, wie sollen wir da neue Wege finden im Umgang mit der Vergangenheit?
Aus Arendts Benjamin-Lektüre können wir für unser Anliegen zwei Momente herausnehmen: den der Besonderheit der Benjaminschen Marxrezeption und seine Art und Weise, mit der Vergangenheit umzugehen. So unabhängig beide Aspekte auch voneinander erscheinen mögen, sie sind, wie sich herausstellen wird, äußerst eng miteinander verbunden. Arendt erinnert daran, dass Benjamin in Adornos Verständnis kein wirklich dialektischer Denker war, denn in seiner Art, den Überbau zu bevorzugen, verwandte er nicht genügend Aufmerksamkeit auf die Mittel, in denen sich die Beziehungen zwischen einem Unterbau und des entsprechenden Überbaus ausdrücken. Nicht, dass Benjamin das Verhältnis zwischen Unterbau und Überbau als eine rein mechanische Beziehung ansah, bei der letzterer Abbild des ersteren wäre. Was vielmehr geschieht, so Adorno, ist, dass Benjamin die “Vermittlung“ auslässt und direkt zum Überbau geht, wobei sich Benjamins Behauptungen nicht aus der Analyse eines Prozesses ableiten, sondern in Adornos Worten den Charakter von „metaphorischen Behauptungen“ annehmen. Arendt stimmt mit Adorno darin überein, dass Benjamin die Dialektik ungezwungen handhabt, aber statt darin eine Begrenzung zu sehen oder ein falsches Vorgehen, interpretiert sie es als eine beredtes Zeugnis der Denkungsart des Autors des „Passagenwerks“. Arendt betrachtet diesen antidialektischen Zug von Benjamin als Folge des Einflusses von Goethes „Urphänomenen“. (“[ ... ] dass das Geistige und seine materielle Erscheinung sich miteinander verschwistern [ ... ] das durch die Reflexion gegangene Staunen vor der Faktizität des Samenkorns, diesem Winzigsten, aus dem alle entsteht und dessen konzentrierteste ‚Bedeutung’ nichts aufnehmen kann, was aus ihm sich entwickelt“. (MZ 200f.), verbunden mit der Art und Weise, wie Benjamin sich auf das Sichtbare bezog.
„Was Benjamin von Anfang an faszinierte“, schreibt Arendt, „war nie eine Idee, sondern immer eine Erscheinung.“ (MZ 202) Diese Hochschätzung der Erscheinungen war genau das, so Arendt, was Benjamin daran hinderte, zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die allgemein gültig wären, d.h. zu versuchen, die Besonderheit eines Phänomens unter eine Idee zu subsumieren, die ihm einen Sinn geben würde. Daher rührt sein Interesse „überall Entsprechungen, ‚correspondances’, zu entdecken“. „Es ging um das Zusammengehören einer Straßenszene, einer Börsenspekulation, einem Gedicht, einem Gedanken, um den verborgenen Duktus, der sie zusammenhält und an dem der Historiker oder der Philologe erkennt, dass sie alle dem gleichen Zeitraum zuzurechnen sind.“ (MZ 200f.) Mit bemerkenswerter Hellsicht verbindet Arendt diese Beschäftigung Benjamins mit konkreten Gegebenheiten, d.h. seine Distanz gegenüber Theorien, die sich nicht mit äußeren Formen verbinden können, mit der Figur des Flaneurs. In seiner permanenten Bewegung, in seinem Vagabundieren ist er das perfekte Bild einer unaufhörlichen denkerischen Tätigkeit, eines Denkens, das nicht die Welt der Erscheinungen flieht, sondern aufmerksam für die Einzigartigkeit des Ereignisses ist.
Es ist offensichtlich, dass Arendt, ohne es zu sagen, in dem antidialektischen Verfahren Benjamins und seiner Aufwertung der Erscheinungen eine Nähe zu ihrem eigenen Denken verspürt. Das bestätigt sich, wenn man liest, wie Arendt die Nähe zwischen Benjamin und Brecht begründet. Beiden, so Arendt, mangelte es aus dem gleichen Grund an Dialektik, weil ihre jeweilige Klugheit ungewöhnlich nahe der Wirklichkeit war. Durch Brecht, sagt Arendt, lernte Benjamin das „plumpe Denken“ kennen und anwenden, wie es der Autor von „Mutter Courage“ genannt hatte. Arendt gibt die Worte wieder, mit denen Benjamin selbst dieses Denken beschrieben hat: „Es gibt viele Leute, die glauben, dass die Dialektik eine Liebe zu Subtilitäten ist. Das plumpe Denken im Gegenteil muss das tägliche Brot des dialektischen Denkens sein, denn es ist nicht anderes, als der Hinweis der Theorie auf die Praxis [ ... ] ein Denken muss plump sein, um selber handeln zu können.“ Und Arendt kommentiert: „Was Benjamin am plumpen Denken so angezogen hat, war wohl weniger die Anweisung auf die Praxis als auf die Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit manifestierte sich für ihn am unmittelbarsten in der von Sprichwörtern und Redensarten erfüllten Alltagssprache.“ Das befähigte ihn, „eine Prosa von so eigentümlich zauberhafter und verzauberter Realitätsnähe zu schreiben“. (MZ 205f.)
Dass die Einzigartigkeit von Benjamins Prosa und die Ergötzung, die sie hervorrief, laut Arendt dem geschuldet waren, was sie die „Nähe zur Wirklichkeit“ nannte, muss man genau so verstehen, wie die Autorin selber präzisiert: Es geht um die Nähe zum Lebendigsten, Plastischsten und Flexibelsten der Sprache, ihrem Sinn für Humor, ihrer Pietätlosigkeit, ihrem Gedächtnis und ihrer Weisheit. Und an diesem Punkt stoßen wir auf das „dichterische Denken“. Bei Benjamin, so Arendt, ist das dichterische Denken ein Denken, das die Sprache für „das größte Geschenk“ hält und der Metapher einen Erkenntniswert zuschreibt. Dank der Metapher ist es möglich, Begriffe mit „den Erfahrungen der Sinne“ zu verknüpfen. In ihrem Denktagebuch macht Hannah Arendt 1969 folgende Beobachtungen: „Was Denken und Dichten verbindet, ist die Metapher. In der Philosophie nennt man Begriff, was in der Dichtung Metapher heißt. Das Denken schöpft aus dem Sichtbaren seine Begriffe, um das Unsichtbare zu bezeichnen." (DT 728) Sofort interessiert uns, die Verbindung zu unterstreichen, die dank der Metapher zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Denken entsteht. In Benjamins Fall war es der Einsatz des metaphorischen Denkens, der ihn nach Arendt dazu brachte, die dialektischen „Vermittlungen“ beiseite zu schieben und sich von der metaphysischen Tradition zu trennen, um, wie schon gesagt, die Bedeutung zu erfassen, ohne dabei von den als sinnlich wahrgenommenen Fakten abzusehen. Dies bedeutet: durch die Metapher rettet man die sichtbare, gemeinsame Welt, in der sich unsere Handlungen und Taten abspielen.
In einem der ersten Absätze des Kapitels über das Handeln in ‚Vita Activa oder Vom tätigen Leben’ legt Arendt zusätzlich zu ihrer großen Wertschätzung der Literatur als Denkform die innige Verbindung zwischen der Condition Humaine, dem Handeln und dem Sinnlichen offen. Wenn, wie es die von Arendt zitierte Isak Dinesen sagt, „alle Gedanken ertragen werden können, wenn wir sie in eine Geschichte bergen oder eine Geschichte über sie erzählen“ (MZ 124), dann deswegen, weil das, was die Geschichte sichtbar werden lässt, die Enthüllung des „Wer“ einer Person ist, d.h. weil sie es möglich macht, dass wir in der Begegnung von zwei Erfahrungen, der des Erzählers und der des Zuhörers, jenem Augenblick beiwohnen, in dem der Funke eines Sinnes sichtbar wird und uns sein Schein erhellt. Arendt, die ihr Leben lang Gedichte schrieb, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, weiß sehr wohl um die Funktion und den Wert der Formgebung einer Erzählung. Die Wirksamkeit einer Geschichte, ihre Fähigkeit, Erfahrungen zu beleben, und der Widerhall, den sie für Wert erachtet, in der Erinnerung bewahrt zu werden, brauchen alle eine entsprechende Formung, d.h. verlangen nach einem Vorgang der Auswahl, der Organisierung, der Konstruktion einer Geschichte, die man erzählt, wie es auch bei den mündlich überlieferten Geschichten der Fall ist.
Das, worauf Arendt sich bezieht, wenn sie vom „dichterischen Denken“ spricht, ist kein spezifischer Tonfall und keine gehobene Sprache, welche die Niederschrift von den üblichen Erfahrungen entfernen würde. Im Gegenteil, indem Benjamin dem Leitfaden dieser wunderbaren Verbindung aus Gedanken und Metapher folgt, wie er sie uns in seinem Essay über Lesskov bietet, setzt er dem Verlust „des Vermögens, Erfahrungen auszutauschen,“ (Benjamin 439) die Figur des Erzählers entgegen, der „immer im Volk wurzeln wird“ (Ebd. 457). Er betont die Unbekümmertheit der Erzähler, mit der „sie auf den Sprossen ihrer Erfahrung wie auf einer Leiter sich auf und ab bewegen. Eine Leiter, die bis ins Erdinnere reicht und sich in den Wolken verliert, ist das Bild einer Kollektiverfahrung“, (Ebd.) Das dichterische Denken also ist das, was immer in der Nähe der Wirklichkeit verbleibt und danach trachtet, der Vergangenheit gerecht zu werden, wenn die Tradition gebrochen und die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, geschwunden ist. Diese Art des Umgangs mit der Vergangenheit verliert sich nicht in der Nostalgie, noch entwirft sie vereinheitlichende und tröstliche Sinngehalte. Im Gegenteil: Sie geht davon aus, dass uns nur Trümmer verblieben sind, Fragmente eines Schiffbruchs, aber sie tracht danach, sie „bruchstückhaft“ zusammenzufügen, um mit ihnen die Gegenwart entziffern zu können. Das dichterische Denken ist also ein Akt des Vertrauens in die Sprache, in die Fähigkeit, dort Sinn zu begegnen und hervorzurufen, wo alles verloren scheint, und das ist eben das, was Hannah Arendt als den „wundersamen“ Charakter der Condition Humaine ansieht: Die Fähigkeit, dank des Handelns und der Freiheit einen neuen Anfang zu stiften. Dafür ist es notwendig, sich von dem falschen Frieden der Selbstgefälligkeit zu lösen.
Literatur
Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten. München 1989. (MZ)
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960. (VA)
Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München 1994. (VZ)
Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973. 2 Bde. Hg. von Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz, München 2002. (DT)
Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Mit einer vollständigen Bibliographie. Hg. von Ursula Ludz, 2. erw. Aufl. München 2005. (IWV)
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 5. Aufl. München 1986. (EU) Hannah Arendt, Macht und Gewalt. München, Zürich 1970. (MG)
Aristoteles, Politik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. München, Deutscher Taschenbuch Verlag 1973.
Walter Benjamin, Der Erzähler, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt 1985.
Der Text erschien unter dem Titel „Arendt y el pensar político“ in: Al Margen, (Colombia), No. 21/22, 2007.
Der Autor ist Mitherausgeber der Zeitschrift.
Aus dem Spanischen übersetzt von Marie Luise Knott und Stefanie Rosenmüller.