Ausgabe 1, Band 2 – September 2006
Fieber
Leslie Kaplan: Fever. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Berlin Verlag 2006
In jüngster Zeit mehren sich die Theorien darüber, dass die jugendlichen Revolten der Vergangenheit und Gegenwart weniger politischen Überzeugungen denn Hormonschüben geschuldet seien. Das sei schon immer so gewesen. Bei den 68ern genauso wie bei den Ghetto-Aufständen heute. Die Jugendzeit sei eine Zeit „wie im Fieber“. Vor allem die der Jungs.
Dies ist einer der beiden Ausgangspunkte des jüngsten, soeben auf deutsch erschienenen Romans „Fever“ der französisch-amerikanisch-jüdischen Schriftstellerin Leslie Kaplan, die Philosophie studierte und in den Neunzehnhundertsiebzigern mit ihrer minimalistischen Prosa über den Fabrikalltag bekannt wurde. Ihrem nüchternen, metaphernlosen Stil ist sie bis heute treu geblieben. Der zweite Ausgangspunkt des Buches ist eine Beschäftigung mit Hannah Arendts Werk, allem voran mit Gedanken aus „Eichmann in Jerusalem“ und „Vita Activa.“ In „Fever“ verknüpft Leslie Kaplan drei aktuelle Themen: die philosophische Frage nach der Verantwortung des Menschen für sein Handeln, die politische Frage nach der unbewältigten Kollaborationsgeschichte Frankreichs und die psychologische Frage nach den Sehnsüchten und Ängsten in Zeiten der Adoleszenz. Hintergrund ist Hannah Arendts Nachdenken über das Böse und die Pluralität des Menschen.
Die Handlung des Romans ist schnell erzählt: Zu Beginn sieht man zwei Jugendliche, die soeben einen „sinnlosen“ Mord begangen haben, einen „acte gratuit“, wie man ihn aus der Literatur ( z.B. Dostojewski) kennt. Es gibt kein persönliches Motiv. Wie ein Experiment haben die beiden Jungs die Tat von langer Hand vorbereitet und geplant; die Frau, die sie umbringen, haben sie zufällig auf der Straße getroffen. Nun stehen sie, den Ort des Verbrechens verlassend, vor der Aufgabe, mit den Folgen dieser unwiderruflichen Handlung fertig zu werden. Kaplan hat Arendt gründlich gelesen, und so fragt sie in Anlehnung an deren Werke: Ist es möglich, Böses zu tun, ohne ein inneres Motiv, ein Interesse, zu haben.? Und: Ist es möglich, dass solche Taten ungesühnt bleiben? Und: Wie lebt man mit sich als einem Mörder (Sprich: seinem Gewissen) zusammen? Und außerdem: Wie lebt man als Mörder in der Gemeinschaft mit anderen? Wenn es stimmt, dass der Mensch nicht alleine, sondern dass viele Menschen auf der Erde leben – wie hält die Gemeinschaft es mit den Mördern unter ihnen aus? Wie kann der Planet gleichwohl ein Ort bleiben (oder wieder werden), der von Menschen bewohnt wird?
All diese Fragen bestimmen den Gang der Handlung im Roman. Die Jungs bekommen Alpträume, versuchen ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, fragen nach dem schlechten Gewissen der (französischen) Nation und fürchten sich, entdeckt zu werden. Aber sie werden es nicht. Am Ende bestehen sie ihr Abitur und gehen auseinander. Ihre Tat bleibt ungesühnt.
Diesen Stoff mit all diesen, wenn man so will, hochspannenden Fragen hat Kaplan sehr didaktisch aufbereitet. Hannah Arend ist in „Fever“ Thema des Philosophieunterrichts, alle Schüler sind von der engagierten Philosophielehrerin begeistert und somit hochmotiviert, sich philosophische und moralische Fragen etwas angehen zu lassen. Durch die eigene (sinnlose) Tat und die Lektüre von Arendt werden die beiden Protagonisten darüber hinaus animiert, sich mit den Leichen im Keller der eigenen Familie und des Landes während der Nazi-Okkupation auseinander zu setzen.
Kaplan thematisiert in ihrem Roman somit ausgehend von einer im pubertären „Fieber“ begangenen Tat lauter hochaktuelle Fragen. Dass am Ende die Empörung darüber, dass die Tat ungesühnt bleibt, sich beim Leser nicht so recht einstellen mag, liegt vielleicht am Konstrukt: Man würde sich wünschen, dass Kaplan mehr der Kraft der Literatur getraut hätte .
Marie Luise Knott