Der letzte Sommer
Süddeutsche Zeitung, 12. August 2015
Von Lothar Müller
Von Ende Mai bis Ende Juni 1975 sichtete Hannah Arendt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach die Briefe ihres Lehrers Karl Jaspers. Jetzt ist eine schmale, aber gehaltvolle Studie über ihre Marbacher Wochen erschienen.
Das Staunen, was alles in einer Momentaufnahme stecken kann, gehört auch zur Lektüre jener schriftlichen Momentaufnahmen, die in den historischen Disziplinen "Miszellen" genannt werden. Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, hat jetzt eine solche über die Wochen vom 30. Mai bis zum 30. Juni 1975 publiziert, die Hannah Arendt während ihrer letzten Europareise in Marbach verbrachte.
Arendt steht darauf zwischen Martin Heidegger, dem sie 1969 empfohlen hatte, das Manuskript von "Sein und Zeit" und andere Schriften nach Marbach zu verkaufen, und ihrem zweiten Lehrer, Karl Jaspers. Heidegger lebte noch, ihm widmete sie Anfang August 1975 einen deprimierenden Besuch. Jaspers war 1969 gestorben, mit seiner Frau Gertrud, die jüdischer Herkunft war und 1974 starb, unterhielt Arendt eine enge Freundschaft. In ihrem Testament hatte Gertrud Jaspers alle Briefe ihres Mannes Hannah Arendt überantwortet. Die Sichtung der Briefe prägte die Wochen in Marbach.
Figuren aus dem Archiv gehören mit zum Bild, darunter Ludwig Greve, auch er Exilant, nun Leiter der Marbacher Bibliothek. Seine autobiografischen Schriften und Briefe, 2013 bei Wallstein erschienen, sind eine ideale Parallellektüre. Amerikanische Freunde wie die Autorin Mary McCarthy und der Philosoph Jesse Glenn Gray, der eine Heidegger-Auswahl plante, besuchten Arendt in Marbach, sie selbst traf sich mit jüdischen Emigranten, die nach Deutschland zurückgekehrt waren. Es war ihr letzter Sommer, sie starb Anfang Dezember 1975 in New York.
Ulrich von Bülow: Hannah Arendt in Marbach. Spuren 105, Marbach 2015. 16 S., zahlr. Abb., 4,50 Euro.
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